Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Berlinale ohne Drängeln und Atmosphäre
Der Goldene Bär geht an den rumänischen Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Der Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“des rumänischen Regisseurs Radu Jude hat den Goldenen Bären gewonnen – auf einer Berlinale, wie es sie noch nie gab und hoffentlich nie wieder so geben wird. Zwei der Silbernen Bären gingen an deutsche Beiträge – aber nicht die mit den bekannten Namen, Dominik Grafs „Fabian“und Daniel Brühls „Nebenan“, sondern an die Schauspielerin Maren Eggert (Hauptrolle, die Auszeichnung wurde nicht nach Geschlecht vergeben) und den Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“(Preis der Jury).
Eine Kästner-Verfilmung in Jogginghose anschauen – ist das angemessen? Darf man sich während einer iranischen Tragödie einen Kaffee machen? Während eines Films WhatsApps checken? Fragen, die noch vor einem Jahr undenkbar waren. Corona sorgte als Regisseurin für ein komplett neues Drehbuch einer Berlinale. Fünf Tage Streaming für Branchenangehörige im März, im Juni das Publikumsfestival mit denselben Filmen sowie den Preisverleihungen – ein aus der Not geborenes Experiment, aber ist es aufgegangen? Ja und nein. Filme gehören ins Kino, auf die große Leinwand, mit großem Ton, vor großem Publikum. Das kann Streaming nicht ersetzen.
Doch was wäre die Alternative? Das Festival verschieben wäre mit weiteren Unwägbarkeiten verbunden gewesen, da der planerische Vorlauf immens ist. Zudem ist der weltweite Festivalkalender voll. Selbst ein A-Festival wie die Berlinale kann sich nicht einfach an neuer Stelle platzieren. Und natürlich ist das Sommerfest ein Wagnis mit ungewissem Ausgang – wird das Publikum es annehmen? Als hätte die Berlinale nicht genug andere Baustellen: Welche Kinos in der Hauptstadt werden überleben, was wird aus dem weitgehend ungenutzten Festivalpalast am Potsdamer Platz, wie entwickeln sich die Kunst- und BusinessForm Kino überhaupt in Netflix-Zeiten?
Berlinale 2021: Ein seltsamer Wettbewerb, natürlich, ohne Amerikaner, mit nur 15 Filmen, mit gleich vier deutschen Teilnehmern, reduzierte Programme auch in den anderen Reihen, mit T wie dem Jodie-Foster-Vehikel „Der Mauretanier“, die nur auf dem Papier standen und ihre Premiere im Sommer erleben sollen – und in den USA längst gelaufen sind. Dass die meisten Wettbewerbsbeiträge noch kein Startdatum in den Filmtheatern haben, wenn sie denn überhaupt eine Chance darauf bekommen – geschenkt; das war in normalen Zeiten auch schon so. Der Goldene-Bär-Gewinner von 2020, das iranische Drama „Doch das Böse gibt es nicht“, hat es bis heute nicht in die Kinos geschafft. Der Verleiher von „Fabian“hat optimistisch und immerhin den 1. Juli als Termin festgesetzt – er soll dann wohl vom
„Buzz“des Berlinale-Sommerevents kurz zuvor profitieren.
Bei der Bären-Verleihung ist Dominik Grafs ambitioniertes Werk leer ausgegangen – keine Überraschung angesichts einer internationalen Jury, die sich die Filme immerhin in einem Berliner Kino ansehen konnte: Erich Kästner ist außerhalb Deutschlands kaum bekannt, der Film zu lang, erstaunlich unpolitisch, die vorgeblichen Parallelen der frühen 30er-Jahre zu heute angestrengt und nicht recht nachvollziehbar. Dass Maren Eggert für ihre Rolle in Maria Schraders intelligenter KI-Komödie „Ich bin dein Mensch“einen Silberbären erhalten hat, ist eine schöne Anerkennung – nicht nur ihrer Präsenz, sondern auch eines Films, der sich leichtfüßig und gleichzeitig seriös eines wichtigen Themas annimmt.
Verdient auch die Auszeichnung für die Doku „Herr Bachmann und seine Klasse“: Maria Speth zeigt ohne Off-Kommentar, aber mit genauem, geduldigem Blick einen ausnehmend empathischen, geduldigen und, ja, liebevollen Lehrer einer sechsten Klasse in einer Hauptschule im hessischen Provinzstädtchen Stadtallendorf. Ein Film, der weit über ein Klassenbild hinausgeht und geeignet ist, so manches Lehrerklischee zu korrigieren. Der längste Film im Wettbewerb und keineswegs der langweiligste.
Schließlich der Gewinner des Goldenen Bären. Radu Jude war schon mehrfach in Berlin, und er hat den einzigen Film im Wettbewerb gedreht, dem man seinen Dreh unter
Corona-Bedingungen ansieht, weil die Figuren überwiegend Maske tragen und der Regisseur das nicht ausblendet. Er trägt auf Englisch den Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“(etwa „Pech gehabt und ein verrückter Porno“) und beginnt tatsächlich mit einer expliziten Hardcore-Porno-Sequenz – eine Lehrerin lässt sich beim Sex mit einem Mann filmen, die Sequenz landet im Internet, was an ihrer Schule schnell die Runde macht.
Jude macht aus dieser Ausgangsposition einen Film, der gleichzeitig „kunstvoll ausgearbeitet, zugleich ausgelassen“ist, „intelligent und kindisch, geometrisch und lebendig, auf beste Art ungenau“, wie es JurySprecher Nadav Lapid, begründete. Judes Film wirft einen schmerzhaft genauen Blick auf das Bukarest von heute, eine Stadt gewordene, optisch und akustisch laute Bausünde, in der Aggressivität, Bigotterie und Intoleranz herrschen. Wahrlich kein schöner, kein guter Film, aber ein ehrlicher, der das Hässliche nicht scheut und zudem vor Ideen nur so platzt.
Deutsche Filme hinterließen auch außerhalb des Wettbewerbs Eindruck. Anne Zohra Berracheds „Die Welt wird eine andere sein“schildert spannend die Geschichte eines der Attentäter von Nine-Eleven, mit einer starken Hauptdarstellerin Canan Kir als dessen Ehefrau. Christian Schwochow („Bad Banks“) erzählt in „Je suis Karl“, wie eine Studentin in eine rechtsradikale Verschwörung rutscht und scheut dabei auch Elemente
der Kolportage nicht. In einer Schweizer Co-Produktion stellt Tim Fehlbaum nach „Hell“(2011) seinen erst zweiten Film „Tides“vor, eine visuell beeindruckende, im friesischen Wattenmeer gedrehte Dystopie mit Anklägen an „Waterworld“. Ein Film, der nach mehr aussieht, als er ist. Kein Wunder, der Co-Produzent heißt Roland Emmerich.
Aus der Schweiz kam auch „Das Mädchen und die Spinne“der Brüder Zürcher, zweiter Teil einer geplanten Trilogie, die 2013 mit dem zu Recht gelobten und auf zahlreichen Festivals gelaufenen Film „Das merkwürdige Kätzchen“ihren Ausgang genommen hat. Die Zürchers verweigern klassisch-elaborierte Handlungsstränge und setzen eher ein Puzzle aus vielen kleinen und kleinsten Details zusammen, die ein stimmiges Ganzes ergeben. Ein Film der Blicke, der Dialoge, der genauen Beobachtungen.
Berlinale 2021: ein Filmfestival, das in die Annalen eingehen wird, im Guten wie im Schlechten. Ein ambitioniertes Festival mit guten und schlechten Filmen, also ein ganz normales Festival. Und eines abseits jeglicher Normalität, eines, dem so vieles fehlte, Atmosphäre, Publikum, Leinwände, ja sogar das Fastfood-Essen im Gehen zum nächsten Film. Nächstes Jahr bitte wieder ohne Abstand. Das enge Anstehen im lauten Pulk vor einem verschlossenen Saal, das Drängeln nach den besten Plätzen – hätte man nicht gedacht, dass man das je vermissen würde.