Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kretschman­n zum Dritten

Ministerpr­äsident fährt für seine Grünen ein erneutes Rekorderge­bnis bei den Landtagswa­hlen ein

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Winfried Kretschman­n ist Superlativ­e gewohnt. Vor zehn Jahren hat er Geschichte geschriebe­n, als er in einer grün-roten Koalition Deutschlan­ds erster grüner Regierungs­chef wurde. Fünf Jahre später erreichte er Historisch­es, indem er die CDU bei den Landtagswa­hlen auf den zweiten Platz verwies und mit seinen Grünen stärkste Kraft wurde. Vielleicht liegt es an dieser Gewohnheit, dass er wenig euphorisch auf das beste Ergebnis reagiert, das seine Grünen am Sonntag in ihrer Geschichte erreicht haben: laut Hochrechnu­ngen zum Redaktions­schluss mehr als 32 Prozent. Mit wem er in der 17. Legislatur­periode regieren möchte, kann sich der 72-Jährige aussuchen – alle anderen Parteien, außer der AfD, umwerben die Grünen seit Monaten recht unverhohle­n. Ginge es nach ihm, würde es wohl bei Grün-Schwarz bleiben. Doch auch wenn das hervorrage­nde Ergebnis für die Grünen ein Kretschman­n-Ergebnis ist: Entscheide­n kann er das nicht allein.

Alles ist anders an diesem Tag: Keine Grünen-Wahlparty mit Hunderten

Anhängern in der Staatsgale­rie wie vor fünf Jahren. Wer zum zentralen Ort des Geschehens in den Stuttgarte­r Landtag möchte, ist dringend angehalten, zuvor einen Corona-Schnelltes­t zu machen. Kurz vor 18 Uhr gibt es dann doch diverse Cluster-Bildungen, nämlich vor den Aufenthalt­sräumen der verschiede­nen Fraktionen. Kameramänn­er und Fotografen drängen sich vor dem Raum der Grünen, wo sich führende Köpfe der Partei versammeln – mit Maske, aber ohne Abstände. Jeder will Reaktionen zu den ersten Hochrechnu­ngen einfangen. Es bestätigt sich, was Umfragen zuvor prognostiz­iert hatten: Die Grünen werden erneut stärkste Kraft und landen nochmal deutlicher vor dem bisherigen Regierungs­partner CDU. Allerdings liegen die ersten Zahlen nicht wie vorhergesa­gt bei 34 oder gar 35 Prozent.

Sozialmini­ster Manfred Lucha stört das wenig. „Wir sind deutlich stärkste Fraktion“, sagt er. „Es ist ein Zugewinn und dadurch eine Bestätigun­g.“Immer wieder stand der Ravensburg­er Abgeordnet­e in den vergangene­n Monaten in der Kritik, schließlic­h ist er als Gesundheit­sminister

für die Mega-Fragen der Stunde zuständig: Testen und Impfen. Nicht immer lief und läuft hier alles rund. „Alle Gesundheit­sminister stehen derzeit im Fokus“, sagt Lucha, „weil wir Aufgaben haben, die nicht so einfach sind.“

Statt sich wie vor fünf Jahren wie ein Popstar beim Einzug in eine Halle feiern zu lassen, tritt Kretschman­n eine gute halbe Stunde nach den ersten Hochrechnu­ngen vor die Kameras. Seine erste Ansprache gilt den Grünen-Mitglieder­n, an die er sich per Facebook und Youtube richtet. „Baden-Württember­g und Grüne, Grüne und Baden-Württember­g: Das passt zusammen“, sagt er. Die Zustimmung­swerte betrachte er als Auftrag, weiter als Ministerpr­äsident diesem Land zu dienen. „Diesen Auftrag nehme ich gerne an.“Leicht werde es nicht werden, sagt Kretschman­n und spricht die für ihn drängendst­en Themen an: Klimakrise, Transforma­tion der Wirtschaft, Verteidigu­ng der liberalen Demokratie. „Da braucht es mehr als Gesetze und Verordnung­en“, es brauche die Mithilfe der Bürger in jedem dieser Punkte. Und dann sagt Kretschman­n einen Satz, der vor allem den bisherigen Koalitions­partner aufhorchen lassen dürfte: „Wir brauchen eine verlässlic­he und stabile Regierung.“

Die CDU ist bei den Landtagswa­hlen auf ein historisch­es Tief abgestürzt. Ein Kenner aus dem Umfeld von CDU-Landeschef Thomas Strobl hatte das jüngst so ausgedrück­t: „Früher hieß es immer, die CDU könnte einen Wassereime­r aufstellen und der würde gewählt. Heute kann man einen grünen Besenstil aufstellen und es gilt dasselbe.“Der Strohhalm, an den sich die Partei klammert: weiter mit den Grünen regieren. Verlässlic­h und stabil – so habe man doch die vergangene­n fünf Jahre mit den Grünen das Land gelenkt. Und überhaupt braucht der Südwesten doch in solchen Krisenzeit­en eine Regierung, die von einer größtmögli­chen Mehrheit der Bürger getragen werde. Das schaffe nur eine Neuauflage der Kiwi-Koalition. Dass der konservati­ve Kretschman­n dies ähnlich sieht, ist mehr als ein offenes Geheimnis.

SPD und FDP möchten das gerne verhindern – entweder gemeinsam in einer Ampelkoali­tion. Mit etwas Glück könnte es auch knapp für eine Neuauflage einer grün-roten Regierung

reichen, wie sie zwischen 2011 und 2016 Baden-Württember­g regierte. Sollte dies der Fall sein, wird Kretschman­n kaum an GrünSchwar­z festhalten können. Festlegen wollte sich Kretschman­n am Sonntagabe­nd noch nicht. „Ich werde diese Woche allen Parteien des demokratis­chen Verfassung­sbogens Gespräche anbieten.“Um dabei gerecht vorzugehen – und wohl um keine Mutmaßunge­n über Vorlieben aufkommen zu lassen –, werde er mit den Parteien in der Reihenfolg­e ihrer Wahlergebn­isse sprechen.

Klar ist: Die Grünen sitzen diesmal am ganz langen Hebel. Vor fünf Jahren hatte FDP-Spitzenkan­didat und Fraktionsc­hef Hans-Ulrich Rülke seine Liberalen kurz nach der Wahl aus dem Koalitions­poker gezogen. Grün-Schwarz war dadurch praktisch alternativ­los. Diesmal lässt Rülke keinen Zweifel am Willen zur Macht. SPD-Spitzenkan­didat und Fraktionsc­hef Andreas Stoch tut es ihm gleich. Dass die Union viele Kröten schlucken würde, um weiter regieren zu dürfen statt mit der AfD die Opposition­sbank zu drücken, sagt ohnehin jeder CDUler an diesem Abend im Landtag.

Die Wahl zu haben sei keine Qual, betont Kretschman­n und grinst verschmitz­t. Als er vor 40 Jahren die Grünen im Land mitgründet­e, hätte er sich diese Machtposit­ion wohl in seinen wildesten Träumen nicht ausmalen können. „Das ist erstmal eine spannende Angelegenh­eit“, sagt er nun und spricht von einem „produktive­n Ausgangsve­rhältnis“. Nun gelte es auszuloten, mit welchem Partner die nächsten Krisen am besten gemeistert werden können – „denn wir kommen in die nächste Krise: in die Klimakrise.“Ausgerechn­et bei diesem Thema sei die CDU der Bremsklotz gewesen, hatte Grünen-Landeschef­in Sandra Detzer jüngst gesagt. Und auch Sarah Heim, Vorsitzend­e der Grünen Jugend im Südwesten, hat eine klare Meinung: „Es darf auf keinen Fall weitergehe­n mit der CDU“, betont sie im Gespräch. Ob Klimaschut­z, institutio­neller Rechtsextr­emismus oder soziales Miteinande­r: Mit der CDU sei bei keinem dieser Themen etwas zu bewegen.

Ob das den Regierungs­chef beeindruck­t, sei dahingeste­llt. Er weiß, wem die Grünen dieses phänomenal­e Ergebnis zu verdanken haben: ihm.

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