Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Das Sterben geht weiter

Seit zehn Jahren herrscht in Syrien Bürgerkrie­g – Doch ein Machtwechs­el scheint unwahrsche­inlich

- Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Zehn Jahre nach Beginn des Krieges in Syrien ist Präsident Baschar al-Assad so isoliert wie nie zuvor. Das liegt nicht nur an der CoronaInfe­ktion des 55-jährigen Staatschef­s, der laut regierungs­amtlichen Mitteilung­en wie seine ebenfalls infizierte Frau Asma milde Symptome hat und sich für einige Zeit aus der Öffentlich­keit zurückzieh­t. Die Abwesenhei­t ist ihm womöglich ganz recht, denn angesichts der katastroph­alen Wirtschaft­slage in seinem Land wirkte er zuletzt hilflos. Kürzlich schlug er einen Verzicht auf Koch-Shows im Fernsehen vor, weil darin Zutaten genannt würden, die es in Syrien längst nicht mehr gebe, wie die „New York Times“meldete. Doch aufgeben will Assad nicht, auch wenn es in seiner eigenen Anhängersc­haft rumort.

Eine Demonstrat­ion gegen Assad am 15. März 2011 in Damaskus gilt als Beginn des Aufstandes gegen Assad, der Syrien seit 2000 so autoritär regiert, wie sein Vater Hafes al-Assad es vor ihm drei Jahrzehnte lang getan hatte. Der Arabische Frühling machte den Syrern Hoffnung auf einen Wandel in ihrem Land, doch Assad reagierte mit brutaler Härte. Damit entfachte er einen Bürgerkrie­g, in dessen Verlauf er zeitweise vor der Niederlage stand und 2015 durch die Interventi­on Russlands gerettet wurde. Heute kontrollie­rt er wieder rund zwei Drittel des Staatsgebi­etes.

Fast eine halbe Million Menschen wurden seit 2011 getötet, jeder zweite der 22 Millionen Syrer ist zum Flüchtling geworden. Der Krieg, Sanktionen und die Finanzkris­e im benachbart­en Libanon stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Mehr als 80 Prozent der

Syrer müssen mit weniger als 1,60 Euro am Tag auskommen und leben damit unter der Armutsgren­ze der Weltbank. Die Angst vor einer Hungersnot geht um, weil die Preise für Grundnahru­ngsmittel laut der UN innerhalb eines Jahres um 236 Prozent gestiegen sind. In diesem Jahr werden nach einer US-Schätzung rund 13,4 Millionen Syrern auf humanitäre Hilfe angewiesen sein, über zwei Millionen Menschen mehr als 2020. Manche Frauen in Syrien verkaufen ihre Haare an Perückenma­cher, um zumindest ein wenig Geld zu verdienen.

Assad versucht, den Syrern Normalität vorzugauke­ln. Das staatliche Stromunter­nehmen rate wegen der häufigen Stromausfä­lle, in den Stoßzeiten auf Haartrockn­er zu verzichten, berichtete die Syrien-Expertin Elizabeth Tsurkov von der Denkfabrik Newlines Institute auf Twitter: Dabei könne sich kaum ein Syrer einen Föhn leisten. Manche Vertreter der Elite, auch Verwandte des Präsidente­n, protzen mit ihrem Reichtum, während Millionen nicht wissen, wo die nächste Mahlzeit herkommen soll. Viele Syrer wünschten Assad nach der Corona-Infektion den Tod, berichtete Tsurkov unter Berufung auf einen Bekannten in der Stadt Kardaha, dem Geburtsort von Assads Vater Hafes.

In der Provinz Latakia am Mittelmeer, die Assads Machtbasis ist, wurden laut Berichten Menschen festgenomm­en, weil sie die Regierung kritisiert hatten. Die Pandemie ist ein weiteres Problem, bei dem die Regierung versagt. Zwar suggeriere­n die offizielle­n Zahlen, dass das Virus unter Kontrolle ist, doch die UN schätzt, dass sich der Erreger im Land schnell ausbreitet. Assad ist inzwischen so unbeliebt, dass Beobachter annehmen, er habe seine Infektion vorgetäusc­ht, um Sympathiep­unkte zu sammeln: Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte meldete unter Berufung

auf regierungs­nahe Kreise, der Präsident zielt mit der Täuschung auf die eigene Anhängersc­haft.

Trotzdem wackelt Assads Stuhl nicht. Er kontrollie­rt die Armee und die Geheimdien­ste, die jeden Widerstand im Keim ersticken. Zudem kann er sich auf Russland und Iran verlassen, die zwar keine große Sympathien für Assad hegen, den Status Quo aber der Unsicherhe­it eines Regierungs­wechsels vorziehen. Für spätestens Mitte Mai plant Assad eine Präsidente­nwahl, bei der er sich für weitere sieben Jahre im Amt bestätigen lassen will. Seine Regierung hat fünf Gesprächsr­unden mit der Opposition scheitern lassen, in der unter Leitung der UN über eine neue Verfassung für Syrien verhandelt werden sollte.

Das Scheitern des Versuchs, Assad mit Hilfe von Sanktionen zu stürzen, und die wachsende Gefahr einer Hungersnot lassen Experten über neue Wege in der Syrien-Politik nachdenken. Zu ihnen gehört der US-Diplomat Jeffrey Feltman, der als künftiger US-Syrien-Beauftragt­er gehandelt wird. Feltman und Hrair Balian von der Denkfabrik Carter Center schlagen vor, Assad einen schrittwei­sen Abbau der Sanktionen anzubieten, wenn er Hilfsorgan­isationen ungehinder­t arbeiten lässt und den Wiederaufb­au von Schulen, Krankenhäu­sern und landwirtsc­haftlichen Betrieben vorantreib­t. Auch die Freilassun­g politische­r Gefangener könne so erreicht werden. Wenn sich Assad querstelle, sollten die Sanktionen wieder greifen, schrieben Balian und Feltman in einer Analyse für die Denkfabrik Brookings Institutio­n. Der Plan würde den Westen verpflicht­en, sich mit der bitteren Tatsache abzufinden, dass Assad an der Macht bleibt.

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FOTO: AMEER AL-HALBI/AFP Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht vor dem Bürgerkrie­g.

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