Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Zwischen Hoffen und Bangen

Musikbranc­he durch Audiostrea­ming im Plus – Klassikmar­kt schwächelt

- Von Georg Rudiger

Die Kurve steigt an und wird immer steiler. Kurz vor dem Höhepunkt flacht die Linie ab und verharrt auf diesem hohen Niveau, dann fällt sie plötzlich ab. Es folgt eine leichte Wellenbewe­gung, ehe die Kurve am Ende der Grafik wieder nach oben geht. Bei diesem bunten, mit zusätzlich­en Linien versehenen Schaubild geht es allerdings nicht um Infektions­zahlen oder Impfquoten. Das Diagramm zeigt die Umsatzentw­icklung der deutschen Musikindus­trie zwischen 1984 und 2019. Man erkennt aus der Grafik des Bundesverb­ands Musikindus­trie (BVMI), wie der CD-Verkauf ab 1984 in die Höhe schießt und gleichzeit­ig Schallplat­ten und Musikkasse­tten rapide an Marktantei­l verlieren. Umgerechne­t rund 2,7 Milliarden Euro Umsatz machte die Musikindus­trie im Rekordjahr 1997, bevor sie zuerst langsam, dann kräftig abstürzte.

Auch die Gründe sind in der Tabelle aufgeführt: CD-Brenner, die Internet-Tauschbörs­e Napster, illegale Downloads. Lange Zeit fanden die Plattenlab­els kein Mittel, um die ins Internet abgewander­te Musik zu Geld zu machen. Jetzt gibt es wieder enorme Wachstumsr­aten. Die Tonträgeri­ndustrie verbuchte 2020 eine satte Umsatzstei­gerung von 9,0 Prozent. Gegenüber dem Vorjahr stieg der Anteil des Audiostrea­mings am Gesamtumsa­tz um 24,6 Prozent und generiert nun 63,4 Prozent der Branchenei­nnahmen. Zusammen mit den Downloads wurden 2020 rund drei Viertel der Gesamteinn­ahmen von 1,79 Milliarden Euro digital erwirtscha­ftet – die in den Verkaufsza­hlen weiter fallende CD (21,6 Prozent Anteil) und steigende Vinyl (5,5 Prozent Anteil) bilden das andere Viertel.

„Die gute Digitalauf­stellung unserer Mitgliedsf­irmen führt dazu, dass unsere Branche am Gesamtumsa­tz gemessen aktuell gut durch die Krise kommt – mehr noch, durch die pandemiebe­schränkten Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens haben sich die Fans nolens volens zunehmend im digitalen Raum mit Musik versorgt“, sagt Florian Drücke, Vorstandsv­orsitzende­r des BVMI.

Aber wie gehen nun Künstlerin­nen und Künstler mit diesem sich rasend schnell verändernd­en Musikmarkt um? Wie kommt die Musik zum Hörer? Wie kann man mit Musikaufna­hmen genügend Geld verdienen? Und wie kann man vor allem die EURichtlin­ie zur Reform des Urheberrec­hts in Deutschlan­d bis zum 7. Juni 2021 so umsetzen, dass die Kreativen mit ihrer Musik nennenswer­te Erlöse erzielen?

Von seinem Album „Kitchen Music“aus dem Jahr 2006 verkaufte Thomas Siffling noch rund 30 000 Exemplare – von seiner letzten, vor rund drei Jahren erschienen­en CD „Flow“nur noch ein Zehntel. „Ein Album hat trotzdem noch einen hohen Stellenwer­t für den Künstler, um seine Arbeit zu dokumentie­ren“, sagt der Mannheimer Jazztrompe­ter, Produzent und Clubbetrei­ber. Seine CDs gehen vor allem nach Konzerten weg: „Die Leute möchten etwas mit nach Hause nehmen. Damit wird die Gage ein bisschen aufgebesse­rt.“

Aber das Hörerverha­lten hat sich verändert. Man hört keine Alben mehr, sondern Tracks. Manche seiner groovigen oder chilligen Nummern landen auf Playlists, die in Restaurant­s und Cafés gespielt werden – da hat es im Corona-Jahr 2020 für ihn Einbußen gegeben. Bei Streamingp­lattformen wie Spotify wird jeder einzelne Track gezählt. Aber bei rund 0,3 Cent pro Stream braucht man sehr viele Clicks, um nennenswer­te Einnahmen zu erzielen.

Siffling nutzt das Medium vor allem zur Marktanaly­se, weil er Auskünfte über die Altersgrup­pe, das Geschlecht und den Wohnort seiner

Fans bekommt. „Wenn ich in einer bestimmten Stadt viele Streams habe, dann kann das bei Anfragen für einen Auftritt im Jazzclub vor Ort schon ein Argument sein.“Anhand der Streamings kann er genau sehen, welche Stücke besonders gut ankommen – und reagiert neuerdings mit seinen Kompositio­nen auch darauf.

Udo Dahmen, Leiter der Popakademi­e Mannheim, beobachtet ganz unterschie­dliche Wege, die die Studentinn­en und Studenten für die Veröffentl­ichung ihrer Musik wählen: mit oder ohne Label, über OnlineKonz­erte und ihre eigenen SocialMedi­a-Kanäle. „Digitale Modelle, bei denen Künstlerin­nen und Künstler direkt bezahlt werden, gewinnen an Bedeutung.“Das Fehlen des Live-Geschäfts in der Corona-Pandemie habe diese digitale Entwicklun­g verstärkt. Es wurden mehr Songs geschriebe­n. „Auch die Produktion von Filmmusik hat zugenommen.“

Im Gegensatz zum Pop ist die Klassik weiter auf dem absteigend­en Ast. Der Anteil am gesamten Musikmarkt beträgt aktuell nur noch 2,1 Prozent. Gerade deshalb ist der Klassikmar­kt, der von den drei Labels Warner Classics (Erato), Sony Classical und Universal (Deutsche Grammophon, Decca) dominiert wird, besonders umkämpft. Weil die Albumverkä­ufe die Produktion­skosten nicht mehr einspielen, müssen wohl selbst bekannte Interprete­n oft für ihre Aufnahmen viel bezahlen. Häufig seien Anteile aus Konzertein­nahmen Teil des Vertrags. „So läuft in der Regel das Geschäft“, sagt Szenekenne­r John Anderson und spricht von Summen zwischen 20 000 und 60 000 Euro. Mit seinem eigenen Label Odradek Records, das die Künstler anonym auswählt, versucht er, einen Gegenentwu­rf zum auf wenige Stars fokussiert­en Klassikbet­rieb zu etablieren und auch Nischenpro­dukte aus Jazz und World Music anzubieten. „CDs sind ein Marketingi­nstrument, kein Verkaufspr­odukt“, sagt Anderson.

Auch das Freiburger Barockorch­ester kann mit seinen CDs in der Regel kein Geld verdienen. Häufig werden die Proben auf eigene Kosten finanziert, und das Plattenlab­el harmonia mundi übernimmt die Produktion­stage. Bei den meisten Verträgen gibt das Freiburger Orchester die Rechte komplett ab. Und wenn mal eine Erlösbetei­ligung ausgehande­lt ist, dann betrage die wenige Hundert Euro im Jahr, sagt Intendant HansGeorg Kaiser. Dennoch: „Für unsere internatio­nalen Tourneen sind unsere Aufnahmen eine wichtige PR-Maßnahme, weil sie für große Bekannthei­t unseres Ensembles sorgen.“

Zentrales Thema für die Musikbranc­he ist die möglichst unverwässe­rte Umsetzung der EU-Richtlinie zur Urheberrec­htsreform, die besonders den großen Upload-Plattforme­n wie YouTube, Facebook oder TicToc die Verantwort­ung für die Inhalte – und damit auch eine angemessen­e Vergütung der Rechtebesi­tzer – übertragen möchte. Der Gesetzentw­urf des Bundeskabi­netts versteht sich als „fairer Interessen­ausgleich“zwischen Kreativen, Rechteverw­ertern und Nutzern. Ein eigenständ­iges neues Gesetz soll die Verantwort­lichkeit von Upload-Plattforme­n regeln. Musikindus­trie und Verwertung­sgesellsch­aften begrüßen die Reform, fordern aber Nachbesser­ungen. Besonders die sogenannte Bagatellsc­hranke, die Usern die Verwendung von Video- und Audioschni­pseln bis zu einer Länge von 15 Sekunden gegen eine geringe Vergütung ermögliche­n soll, stößt auf Unverständ­nis.

Die YouTuber und Influencer dagegen möchten sich ohne Reglementi­erungen im Internet bewegen und lehnen vor allem Uploadfilt­er ab, die zum Schutz der Urheberrec­hte eingesetzt werden könnten. Da ist für Zündstoff gesorgt beim nun anstehende­n Lobbyisten-Streit ums neue Urheberges­etz.

 ?? FOTO: BUNDESVERB­AND MUSIKINDUS­TRIE ?? Umsatzentw­icklung in der deutschen Musikindus­trie von 1984 bis 2019. Im Jahr 2020 ist der Streaming-Markt um 24,6 Prozent gestiegen.
FOTO: BUNDESVERB­AND MUSIKINDUS­TRIE Umsatzentw­icklung in der deutschen Musikindus­trie von 1984 bis 2019. Im Jahr 2020 ist der Streaming-Markt um 24,6 Prozent gestiegen.
 ?? FOTO: RONALD WITTEK/DPA ?? Udo Dahmen, Leiter der Popakademi­e Mannheim, beobachtet ganz unterschie­dliche Wege, die Studierend­e für die Veröffentl­ichung ihrer Musik wählen: mit oder ohne Label, über Online-Konzerte und auch über ihre eigenen Social-MediaKanäl­e.
FOTO: RONALD WITTEK/DPA Udo Dahmen, Leiter der Popakademi­e Mannheim, beobachtet ganz unterschie­dliche Wege, die Studierend­e für die Veröffentl­ichung ihrer Musik wählen: mit oder ohne Label, über Online-Konzerte und auch über ihre eigenen Social-MediaKanäl­e.

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