Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wer das Klima schützt, darf regieren
Grüne machen Kampf gegen Erderhitzung zur Gretchenfrage für eine neue Regierung – Sondierungsgespräche mit CDU, SPD und FDP bis Ende der Woche
Grüne Freude
Auf den Erfolg ihrer Wahlkreis-Kandidaten sind die Grünen stolz – gerade in ländlichen Wahlkreisen wie Wangen. „Es freut mich auch, dass Petra Krebs dort das Direktmandat geholt hat. Das war eine Bestätigung für sie“, sagt Fraktionschef Schwarz. Vor fünf Jahren war Krebs noch über die Zweitauszählung ins Parlament eingezogen. Statt diesen Erfolg mit der Popularität ihres Zugpferdes Winfried Kretschmann zu erklären, verweist Schwarz auf die Wahlkreisarbeit der Kandidaten – und nennt als Beispiel Andrea Bogner-Unden aus Sigmaringen. Als besonderen Erfolg verbucht Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand, dass zwei „unschöne blaue Flecken“nun grün sind: „Es ist schön, dass wir der AfD die beiden Direktmandate in Pforzheim und Mannheim Nord abnehmen konnten.“
Ade Grün-Rot
Entgegen aller Prognosen sah es am Sonntag zwischenzeitlich so aus, als würde es ganz knapp für eine Neuauflage der grün-roten Regierung von 2011 bis 2016 reichen. Nun kommen die beiden Parteien auf zusammen 77 Sitze im neuen Parlament und verfehlen damit eine Mehrheit um einen einzigen Sitz. „Das finde ich tatsächlich schade“, sagt der Grünen-Landeschef Hildenbrand, der künftig auch als Abgeordneter dem Parlament angehören wird. Hätte es für Grün-Rot gereicht, wäre die künftige Regierung wohl am Sonntagabend klar gewesen – davon sind weite Teile von SPD und Grünen überzeugt. Die inhaltlichen Schnittmengen sind groß.
Mit wem die Grünen nun reden
Schon am Sonntagabend hatte Ministerpräsident Kretschmann klar gemacht, dass seine Partei mit allen Parteien außer der AfD sondieren wolle – und zwar der Reihe ihrer Wahlergebnisse nach. So erging am Montag eine Einladung an die CDU
Sie ist mit der CDU der große Verlierer des Wahlabends: die AfD. In Baden-Württemberg büßte sie ein Drittel ihrer Stimmen ein. 2016 holten die Rechten mit 15,1 Prozent hier noch das beste Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland. Die einstige Oppositionsführerin ist mit 9,7 Prozent nun auf die kleinste Fraktion im Stuttgarter Landtag geschrumpft. Die einzigen Direktmandate Mannheim und Pforzheim hat sie an die Grünen verloren. Und auch in Rheinland-Pfalz fällt die AfD um mehr als vier Punkte von 12,6 auf 8,3 Prozent.
2016 zogen die einst erfolgsverwöhnten Rechten in der Bundespressekonferenz noch triumphierend vor die Journalisten. Ihre Chefin hieß damals Frauke Petry, die selbstbewusst über die Siege in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und SachsenAnhalt sprach. Im ostdeutschen Bundesland wählte damals gar fast ein Viertel der Bürger (24,1 Prozent) die AfD. Dort hat sie bei der kommenden Landtagswahl im Juni Chancen, das Ergebnis von 2016 zu wiederholen.
Petry ist mittlerweile gegangen, weil sie den einflussreichen Rechten nicht rechts genug war. Im Jahr 2021 heißt die stellvertretende Bundeschefin und Südwest-Landesvorsitzende Alice Weidel. Sie hat keinen Grund zum Jubeln, sieht ihre Partei für Gespräche am Mittwoch. Bereits am gleichen Tag wollen die Grünen außerdem mit SPD und FDP verhandeln. Alles noch vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag. „Wir gehen ohne jede Vorfestlegung und ohne jeden Automatismus in diese Gespräche und sind ernsthaft gespannt“, sagt Hildenbrand. Es gehe dabei um Inhalte, aber auch um die Vertrauensfrage: Mit wem lässt es sich verlässlich fünf Jahre regieren? „Wir wissen noch nicht mit wem, aber sehr genau, was wir wollen“– nämlich Klimaschutz, Innovationen und Zusammenhalt, so Hildenbrand. als Opfer des Verfassungsschutzes, der ihr rechtswidrig „auf den Hals gehetzt“worden sei. Südwest-Spitzenkandidat und -Fraktionschef Bernd Gögel gibt sich selbstkritischer. Zu dem Minus habe „auch die eigene Performance beigetragen, sagte er dem Sender „Phoenix“.
Zwar schreckte die mögliche Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz bügerliche Wähler ab – doch Gögels Fehlersuche in den eigenen Reihen wird einiges zutage
Knackpunkt Klimaschutz
Drei Themen seien ihm besonders wichtig in der kommenden Legislaturperiode, hatte Kretschmann gesagt: „Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz“. Wie sehr sich die potenziellen Partner hier auf die Grünen zubewegen, wird für eine Regierungsbildung entscheidend sein. Die CDU sei in diesem Bereich der „Bremsklotz“gewesen, hatte Grünen-Landeschefin Sandra Detzer beklagt. Um weiter regieren zu können, dürfte die massiv geschrumpfte Union nun aber zu Zugeständnissen bereit sein – etwa bei einer Fotovoltaikpflicht für Dächer fördern. Grabenkämpfe gehören seit ihrer Gründung zwar zum Naturell der AfD. In den vergangenen Monaten aber beschäftigte sie sich hauptsächlich mit sich selbst – das war jedenfalls das Bild, das sich bei vielen Wählern verfing. Der Streit zwischen den vermeintlich gemäßigten und den radikalen Kräften wird auf allen Ebenen der Partei geführt. Anhänger des formell aufgelösten „Flügel“um den Thüringer Landeschef Björn Höcke stehen gegen mutmaßlich beim Neubau von Wohnhäusern. „Ich werde nicht über rote Linien sprechen“, sagt FDP-Landeschef Michael Theurer dazu. „Dass wir als Freie Demokraten für Anreize stehen und nicht für Dirigismus und Verbotspolitik ist ja klar.“Theurer weiß aber auch: Bündnisse lassen sich nur mit Kompromissen schließen. „Es ist natürlich immer ein Geben und Nehmen, und natürlich sind wir nicht gänzlich gegen ordnungsrechtliche Maßnahmen“, sagt er. Für den Vorsitzenden der Liberalen im Landtag Hans-Ulrich Rülke ist bei allen Zugeständnissen aber auch klar: „Wir werden uns sicher nicht so in moderatere Mitglieder. Es ist ein Kampf zwischen denen, die sich einen bürgerlich-konservativen Anstrich geben wollen und jenen, die unverhohlen extrem rechte Positionen vertreten. Das zeigte sich auf dem letzten Bundesparteitag im November. Jeweils rund die Hälfte der Delegierten stand für oder wider Parteichef Jörg Meuthen, der in seiner Rede zur Mäßigung aufgerufen hatte.
Das zeigt sich aber vor allem in Baden-Württemberg. Der Landesverband bildet wie kein zweiter den Richtungsstreit ab. Die Stuttgarter AfD-Fraktion schrumpfte seit 2016 von 23 auf zuletzt 15. Abgeordnete traten aus oder wurden ausgeschlossen. Eine Kandidatur Gögels in einer Doppelspitze mit seinem völkischnationalen Vize Emil Sänze scheiterte am Votum der Mitglieder. Der eher moderate Gögel brauchte vier Anläufe, bis er zum Spitzenkandidaten gekürt wurde. Doch Gründe für das Abschneiden der AfD sind nicht nur im Inneren zu suchen. Ihr Leibund-Magen-Thema Migration ist in den politischen und gesellschaftlichen Debatten spätestens von der Corona-Pandemie übertönt worden.
Die AfD hat es nicht geschafft, sich den Zorn der Straße gegen die Maßnahmen – der im Südwesten groß ist – zu eigen zu machen. In der Corona-Krise wirkt sie orientierungslos. Zwar hatte sie versucht, die
Grün-Schwarz oder Ampel?
Stabil und verlässlich, so soll seine dritte Regierung sein, hatte Kretschmann am Sonntag als Devise ausgegeben. Die CDU deutet dies als Hinweis, dass der Ministerpräsident gerne mit ihr weiterregieren möchte. „Stand heute würde ich sagen, dass eine Ampel viel stabiler wäre als Grün-Schwarz“, sagt indes SPD-Generalsekretär Sascha Binder, „denn Stabilität macht man nicht von der Zahl der Partner abhängig, sondern auch von den Partnern an sich.“Die CDU sei alles andere als stabil. „Sie ist führungslos: Die Spitzenkandidatin und der Landesvorsitzende haben es nicht in den Landtag geschafft.“
Zudem gelte es, zunächst Skandale um Bereicherungen bei Masken-Beschaffung und Verbindungen zu Aserbaidschan aufzuarbeiten. „Die CDU hat mehr mit sich selber zu tun, als eine stabile Regierung bilden und wirklich nach vorne gehen zu können.“SPD-Chef Stoch fasst die Wahl der Grünen so zusammen: „Entweder entscheidet sich Kretschmann für ein bräsiges Weiter-so, oder für eine Zukunftsregierung. Ich sehe die Möglichkeit, sich in einer Ampel auf einen weit größeren Nenner zu einigen als die Grünen das mit der CDU könnten.“Auch FDP-Chef Theurer betont: „Wir wollen das Verbindende suchen.“Verlässlichkeit: die hänge an Personen und an Absprachen über Inhalte, ergänzt Fraktionschef Rülke. „Unser Thema wäre sicher die Verbindung von Ökonomie und Ökologie, während ich bei GrünSchwarz keine Überschrift erkennen konnte.“
Unzufriedenheit über die CoronaMaßnahmen zu vereinnahmen und in Zustimmungswerte umzumünzen. Doch Initiativen wie „Querdenken 711“waren dabei erfolgreicher. Die AfD konnte nur mäßig gewinnbringend im Becken der CoronaSkeptiker fischen – und die sind glücklicherweise bloß eine laute Minderheit. Jene, die sich um die Zukunft ihrer Betriebe sorgen und bei den Regierungsparteien eine tragfähige Öffnungsstrategie vermissen, dürften sich bei der FDP besser aufgehoben fühlen. Etwa 50 000 Wähler hat die AfD an die FDP verloren.
Zudem hat die AfD es nicht geschafft, die Gruppe der Nichtwähler zu halten. Vor fünf Jahren konnte keine Partei so viele Nichtwähler für sich gewinnen, 2021 verlor keine Partei so viele Menschen – 135 000 – wieder an diese Gruppe.
Auch wenn die AfD ihren Zenit in den beiden Bundesländern überschritten hat, hat sie sich mit diesen Wahlen konsolidiert, wie der Kasseler Politologe Wolfgang Schroeder sagt. „Der Außenseiter ist bei den Altparteien angekommen.“Er glaubt, dass die Strömungen der AfD bis zur Bundestagswahl am 26. September die Waffen schweigen lassen. „Ab dem 27. September werden sie aber wieder in den Ring steigen“, so Schroeder, der die Bundes-AfD zwischen sieben und zehn Prozent sieht. 2016 waren es noch 12,6 Prozent.