Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Österreich kritisiert Impfstoffverteilung der EU
Kanzler Sebastian Kurz schreibt Brandbrief nach Brüssel – Kommissionsvize räumt Fehler ein
BRÜSSEL - Österreich streitet mit der EU um Impfstoffe. Es geht um die Frage, ob diese gerecht verteilt werden.
Ein recht ungewöhnliches Schreiben landete Samstagnachmittag in den Mailboxen der Brüsseler Journalisten. „Die EU-Kommission stimmt mit jüngsten Stellungnahmen mehrerer Mitgliedsstaaten überein, wonach es die gerechteste Lösung für eine Zuteilung der Impfstoffe wäre, sie anteilig auf der Basis der Einwohnerzahl zu verteilen. Die Mitgliedsstaaten entschieden jedoch, eine Flexibilitätsklausel einzubauen, die eine andere Verteilung ermöglicht.“
Die Brüsseler Behörde ist federführend beim Ankauf und der Verteilung der Impfstoffe, welche die EUStaaten gemeinsam geordert haben. Die ungewöhnliche Klarstellung ist eine Reaktion auf einen Brief, den Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Kollegen aus Lettland, Bulgarien, Slowenien und Tschechien an die EU-Kommission und Ratspräsident Charles Michel geschrieben hatten. Darin fordern sie, die Impfstoffverteilung bei einem Gipfel neu auszuhandeln, da derzeit nicht dem Bevölkerungsanteil entsprechend geliefert werde.
Kurz und seine osteuropäischen Kollegen hatten vor allem auf das Vakzin von Astra-Zeneca gesetzt, das wegen ständig neuer Lieferengpässe und nun auch noch wegen des Verdachts, Thrombosen auszulösen, nicht aus den Schlagzeilen kommt. Die Opposition unterstellt Kurz, mit der Schuldzuweisung Richtung Brüssel von eigenem Versagen ablenken zu wollen. Kurz wiederum entließ am Montag einen Spitzenbeamten, weil dieser bei der EU eigenmächtig auf weitere Bestellungen verzichtet, obwohl genug Geld zur Verfügung gestanden hätte.
Misst man den bereits geimpften Anteil der Bevölkerung, steht Österreich auf Platz 19 von 27 Mitgliedsländern. Auch die vier anderen Briefunterzeichner kommen mit ihrer Impfkampagne nicht voran. Nach einer Analyse des Onlinemaganzins „Politico“managen sie die Verteilung der vorhandenen Impfstoffe allenfalls mittelmäßig.
In ihrem Brief behaupten die fünf Regierungschefs, erst „vor einigen Tagen entdeckt“zu haben, dass die Lieferung der Impfstoffe nicht wie vereinbart erfolge. Dadurch könne das Ziel der EU-Kommission infrage gestellt werden, bis zum Sommer 70 Prozent der EU-Bevölkerung zu impfen. Kurz nannte das System der Verteilung einen „Basar“. Ende März soll das Thema Impfen nun wieder ganz oben auf der Tagesordnung eines EU-Gipfels stehen.
Das ganze Gezerre ähnelt dem Streit in einer Lotto-Tippgemeinschaft, die in letzter Minute doch auf unterschiedliche Zahlen setzte. Da man die Chancen auf Zulassung unterschiedlich einschätzte und es zudem große Unterschiede in Preis und Nutzerfreundlichkeit gab, bevorzugten einige Länder Astra-Zeneca, andere setzten auf Biontech/ Pfizer oder Moderna. Im Sommer vergangenen Jahres konnte niemand wissen, wer das Rennen machen würde, ob es besser wäre, auf bewährte Impfstoffentwicklungen zu vertrauen oder auf das brandneue mRNA-Verfahren. Deshalb verzichteten einige Länder auf eigenen
Wunsch auf das ihnen zustehende Kontingent eines bestimmten Herstellers. Andere griffen zu, was entsprechend in den Vorkaufsverträgen festgehalten wurde. So kamen zum Beispiel Deutschland und Frankreich an eine überproportional große Menge Biontech-Impfstoff. Inzwischen sind die Entscheidungsträger ein kleines bisschen schlauer. Aber noch immer ist völlig offen, ob sich nicht mittelfristig doch das Produkt von Astra-Zeneca oder Johnson & Johnson als sicherer, schneller verfügbar und dazu billiger herausstellt.
Die eigentlich wichtige Frage, welche Länder aktuell Impfstofflieferungen in die EU blockieren, gerät dabei etwas aus dem Blick. Ganz zu schweigen von der noch wichtigeren Frage, wie sich Europa bei der medizinischen Grundversorgung künftig möglichst unabhängig von Drittländern aufstellen kann. Der CDU-Politiker Manfred Weber forderte erneut einen Exportstopp für alle EU-Vakzine aus der EU.
Kommissionsvize Frans Timmermans räumte ein, seine Behörde habe zwar nicht bei den Kaufverträgen, aber in Phase zwei, wo es um die Produktion und Verteilung der Dosen geht, Fehler gemacht. Welcher Art, wollte in Brüssel gestern niemand erläutern. Timmermans’ späte Erkenntnis könnte natürlich auch der Tatsache geschuldet sein, dass sein Heimatland, die Niederlande, am Mittwoch ein neues Parlament wählt. Da kann es nicht schaden, aus sozialdemokratischer Perspektive zu betonen, dass man alles hätte besser machen können als die Chefin Ursula von der Leyen, die den Christdemokraten angehört.