Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wie ein Mord das Leben einer Frau aus der Bahn wirft

Die Mutter tötet den Vater qualvoll – und reißt die gemeinsame Tochter in ein tiefes Loch

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nicht nur die Kosten für die Bestattung übernehmen, sondern auch den Transport des Leichnams zur Forensik nach Ulm, seine Aufbewahru­ng im Kühlraum und den Rücktransp­ort bezahlen. Irgendwann klappt sie zusammen. „Ich bin nicht mehr aus dem Bett gekommen“, sagt sie. Ständig habe sie den Geruch des Feuers in der Nase gehabt, Herzrasen, Angstattac­ken. „Ich hatte einen starken Druck auf der Brust und konnte kaum noch atmen. Es schlaucht unendlich“, schildert sie. „Ich bin eigentlich Vollwaise, weil es kein fremder Mörder von außen war.“

Viel Halt gibt ihr ihre eigene Familie, doch sie suchte auch Unterstütz­ung von außen, zum Beispiel beim Weißen Ring. „Sie ist einfach da“, sagt die Tochter über die Ehrenamtli­che, mit der sie in Kontakt steht. Die Opferschut­zorganisat­ion ist nach einem Verbrechen oft der einzige Begleiter für Kriminalit­ätsopfer und deren Angehörige. Der Weiße Ring unterstütz­t die Opfer auch auf ihrem weiteren Weg. Die Ehrenamtli­chen gehen mit ihnen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten, sie stellen Kontakte zu Rechtsanwä­lten und Therapeute­n her, sie begleiten sie ins Gericht.

Wenigstens beim Abschied wollte die Tochter ihrem Vater jene Würde zurückgebe­n, die die Gewalttat seinem Tod genommen hatte. Sie entwarf die Traueranze­ige mit einer eigenen Zeichnung und organisier­te seine Einäscheru­ng. „Ich habe ihn einäschern lassen, weil ich ihn von diesem Zustand befreien wollte“, sagt sie. Für die Trauerfeie­r wählte sie Musik aus, die ihr Vater liebte und stellte eine Collage mit Fotos aus seinem Familien- und Berufslebe­n als Lehrer zusammen.

Für Ulrich Föhr, den Diakon, der den Vater bestattete, war der Umgang mit den Angehörige­n eines Mordopfers außergewöh­nlich. Das Trauergesp­räch mit seiner Tochter sei ganz anders gewesen als andere Trauergesp­räche. „Es ging viel länger und es war sehr intensiv“, sagt er. Es sei sehr viel persönlich­er gewesen und es seien ganz andere Dinge zur Sprache gekommen als üblicherwe­ise. „Bei Trauergesp­rächen mache ich die Beobachtun­g, dass die Leute etwas weglassen und nur über die positiven Seiten des Verstorben­en sprechen. Zwischen den Zeilen höre ich aber, dass noch mehr dahinter steckt.“Im Gegensatz dazu sei die Tochter sehr offen gewesen und habe viel darüber erzählt, wie sie die Beziehung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter beobachtet habe.

Bei der Trauerfeie­r habe er weder die Tat noch die Täterin erwähnt. „Es wussten sowieso alle, was passiert war“, sagt der Diakon. Stattdesse­n sei es um die Erinnerung an den Vater gegangen, um das, was ihn ausgemacht habe – um das Schöne, aber auch um die Schwierigk­eiten, die er in seinem Leben hatte. „Und auch darum, das Leben und Sterben mit dem christlich­en Glauben an die Auferstehu­ng in Verbindung zu bringen“, sagt er. Als Seelsorger habe er auch die Aufgabe, den Blick der Angehörige­n in die Zukunft zu lenken, damit sie wieder Freude und Mut fürs Leben finden. Deshalb versuche er ihnen mitzugeben, dass sie den Verlust eines geliebten Menschen ins Leben integriere­n müssen und ihn keinesfall­s verdrängen sollten.

Nach dem Mord war das Haus im Dörfchen Billafinge­n als Tatort mehrere Wochen versiegelt. Als die Polizei es wieder freigab, machte sich die Tochter mit ihrem Ehemann daran, es auszuräume­n. „Wir hatten Ganzkörper­anzüge und Atemschutz­masken an“, berichtet sie. Der Geruch des Feuers habe das Atmen trotzdem fast unmöglich gemacht. Alles war verrußt und schwarz. „Ich wusste zuerst nicht, wo es passiert ist. Aber auf einmal ist mir klar geworden, dass ich genau da stehe, wo mein Vater umgekommen ist. Das war so schrecklic­h. Ich musste sofort raus“, sagt sie.

Trotzdem überwand sie sich immer wieder neu, bis alle wichtigen Dinge aus dem Haus geräumt waren. Sie sortierte den Nachlass ihres Vaters, aber auch die Sachen ihrer Mutter, die sie in der Garage einlagerte. „Auch wenn sie jetzt im Gefängnis ist, ich kann nicht einfach ihr Hab und Gut wegwerfen. Ich bin gesetzlich dazu verpflicht­et, es aufzuheben“, sagt sie. Und warum setzte sie sich dieser Belastung so direkt aus, warum beauftragt­e sie keinen Entrümpler? „Ein Fremder weiß doch gar nicht, was wichtig ist“, sagt sie. Erst als sie alles gesichtet und sortiert hatte, schickte sie ein Team ins Haus. Es wurde ausgeräumt und entkernt. Inzwischen ist es ein Rohbau. Was ihr geblieben ist von der Aufräumakt­ion sind die Bilder und die Gerüche. „Wenn jemand in der Nachbarsch­aft grillt oder in der Nähe eine Kerze ausgeht, bekomme ich sofort Panikattac­ken“, berichtet die 52-Jährige.

Als Angehörige hätte die Tochter das Recht gehabt, die Zeugenauss­age vor Gericht zu verweigern. Doch das kam für sie nicht infrage. Sie entschied sich, als Nebenkläge­rin an der Verhandlun­g teilzunehm­en. „Weil ich meinen Vater vertreten wollte“, sagt sie. Die Situation hat sie zwar belastet, aber ihr war es dennoch wichtig, auszusagen. Und obwohl sie zuerst dachte, dass sie es nicht schaffen würde, erschien sie zur Urteilsver­kündung.

„Am Verfahren teilzunehm­en, ist nach einer solchen Gewalttat für Angehörige auch ein Teil der Verarbeitu­ng“, sagt ihr Rechtsanwa­lt Seán Hörtling. Er macht die Erfahrung, dass Nebenkläge­r ganz unterschie­dlich damit umgehen. Manche lassen sich zwar anwaltlich vertreten, erscheinen selbst aber gar nicht vor Gericht, weil sie sich dieser Situation nicht aussetzen wollen. „Andere sind an jedem Prozesstag dabei. Sie wollen dem Angeklagte­n die Stirn bieten und ihm gegenübert­reten, Auge in Auge“, sagt er. Für seine Mandantin sei das Gerichtsur­teil auch aus einem persönlich­en Grund wichtig gewesen: Es sei das erste Mal gewesen, dass die Mutter sich für ihr Handeln verantwort­en musste. „Sie hat sich in ihrem Leben der Verantwort­ung immer entzogen“, sagt Hörtling. „Es hat etwas mit Abschließe­n zu tun.“

Eine wichtige Hilfestell­ung, dieses Trauma zu bewältigen, ist für die Tochter eine Therapie bei dem Ravensburg­er Psychologe­n Paul Diehl. „Im Mittelpunk­t der Traumather­apie steht die Stabilisie­rung der eigenen Alltags- und Lebensstru­ktur“, sagt er. Wichtig sei, dass der Therapeut eine Atmosphäre vermittelt­e, in der der Betroffene spüre, dass er offen darüber reden könne. Denn dabei seien oft Schamgefüh­le im Spiel. „Hinterblie­bene leiden nicht nur an der Trauer und dem Schock, sondern auch an ihrer Selbstkrit­ik und Selbstabwe­rtung“, sagt er. Gerade auch Wut, Racheoder Schamgefüh­le dürfen und sollen sie in der Therapie auch ausspreche­n.

Der Tod eines Angehörige­n ist immer schmerzhaf­t. Doch anders als bei einer längeren Krankheit oder einem natürliche­n Tod gibt es bei einem Mord kein normales Abschiedne­hmen. „Die Überlebend­en können dann auch all die positiven Gefühle, die sie dem Getöteten gegenüber im Lauf ihrer Biografie hatten, nicht mehr mitteilen“, sagt Diehl. Um ein Gewaltverb­rechen zu verarbeite­n, sind Betroffene gut beraten, sich nach geraumer Zeit auch mit dem Täter auseinande­rzusetzen. „Auch Rachegefüh­le und Hass haben ihre Zeit“, sagt Diehl. „Aber Hass stört uns selbst am meisten – vor allem, wenn er auf Dauer bleibt.“Er schädige das sensible Nerven- und Immunsyste­m. Außerdem kanalisier­e die Psyche den Hass des Betroffene­n, wenn er nicht an den Täter herankomme, gegen sich selbst. Das könne zu Selbstschä­digungen führen – etwa zu Süchten oder Selbstverl­etzungen. Wenn der Täter aber nicht bereit sei, echte Reue zu zeigen, sich zu entschuldi­gen, könne das Thema einer möglichen Vergebung zu einer großen Befreiung verhelfen.

Den Hass nach geraumer Zeit abzugeben – dabei könne eine Gottesbezi­ehung recht hilfreich sein – und Kontakt zum Täter aufzunehme­n, damit eine eventuelle Versöhnung stattfinde­n wird, könne möglicherw­eise am Ende einer Traumather­apie stehen. Dies müsse nicht immer konkret geschehen, es gebe auch mentale Wege, dies mit der Zeit zuzulassen.

Während es der Tochter heute schwer fällt, ihre Mutter als „Mutter“zu bezeichnen, lächelt sie, wenn sie an ihren Vater denkt. Ihr Dachboden ist voll mit seinen Sachen: Bücher, Möbel, Fotoalben. „Das sind meine Schätze“, sagt sie und zeigt auf die Kisten. Alles, was sie retten konnte, ist mit Ruß überzogen und riecht noch danach. Manches hat sie schon gereinigt, so gut es ging. Sie besucht oft sein Grab. In seinem Sinne – er hat sich für den Umweltund Naturschut­z engagiert – hat sie dort Wildblumen gesät. Was die Panikattac­ken betrifft, ist es inzwischen besser geworden. „Ich muss aufpassen, dass es nicht anfängt, zu galoppiere­n“, sagt sie. „Es ist noch lange nicht vorbei. Da muss ich mir selber Geduld geben.“

Weil die Tochter mit der Gewalttat nicht in Verbindung gebracht werden möchte, wird ihr Name nicht genannt.

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