Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Rechtsmediziner: Das Opfer hatte keine Überlebenschance
Zweiter Verhandlungstag vor dem Landgericht Ravensburg im Totschlagsprozess von Kehlen
KEHLEN - Mit der Vernehmung weiterer Zeugen ist am Montagmorgen am Landgericht Ravensburg der Prozess gegen einen 27-jährigen Mann wegen Totschlags fortgesetzt worden. Der Asylbewerber soll in den frühen Morgenstunden des ersten Juli 2020 einen 33-jährigen Mann in einer Anschlussunterbringung in Kehlen mit 15 Messerstichen getötet haben, weil er sich von ihm bedroht gefühlt hatte. Der Fall war zunächst vom Landgericht als Notwehrsituation eingestuft worden und erst nach Widerspruch der Staatsanwaltschaft vor der fünfköpfigen Schwurgerichtskammer als Totschlagsdelikt gelandet.
Während am ersten Verhandlungstag die Vernehmung des Angeklagten im Mittelpunkt stand, der von einem vorangegangenen Streit zwischen ihm und dem Opfer wenige Tage vor der Tat berichtete, ging es nun um die Aussagen von Mitbewohnern
der Unterkunft, weiteren Tatzeugen sowie der ermittelnden Polizeibeamten. Die junge Frau, mit der der Angeklagte den Abend des 30. Juni verbracht hatte und mit der er nach der Tat zunächst in Richtung Schussenufer geflohen war, erschien, obwohl zwischenzeitlich zur Fahndung ausgeschrieben, auch am zweiten Verhandlungstag nicht vor Gericht. Ihr Aufenthaltsort ist weiterhin unbekannt. Eine Verlesung ihres polizeilichen Vernehmungsprotokolls lehnten die beiden Nebenklägervertreter, die die Interessen der Tochter und der Mutter des Opfers wahrnehmen, ab. Auch ein weiterer wichtiger Tatzeuge, ein Freund des Opfers, der ihn in der Tatnacht zur Unterkunft begleitete, erschien nicht vor Gericht. Beide Zeugen erhielten für ihr Nichterscheinen eine Geldbuße von 150 Euro auferlegt.
„Er war mein bester Freund. Er war voll korrekt. Er hat jedem geholfen. Ich kann nichts Negatives über ihn sagen“, berichtete ein Freund des
Opfers, der mit ihm gemeinsam „auf Platte“gelebt hat. Von dem Streit der beiden Kontrahenten an der Uferpromenade in Friedrichshafen, der Auslöser für die Attacke des Opfers auf den Täter gewesen sein soll, habe er nicht viel mitbekommen. Dabei soll der Syrer den 33-jährigen Deutschen mit einem Messer bedroht haben. Für diese Bedrohung wollte sich das spätere Opfer in der Tatnacht rächen. Als äußerst aggressiv und provozierend charakterisierte eine Bewohnerin der Unterkunft den Angeklagten. Ihre erste Begegnung mit ihm endete mit einer Anzeige ihrerseits gegen ihn. „Du Schlampe, du Drecksau, mach die Tür auf“, soll er sie angeschrien haben, als sie ihm, da sie ihn nicht kannte, auf sein Klingeln hin nicht die Haustür öffnete. „Ich bring dich um. Ich mach dich tot“, soll er anschließend noch gedroht haben. Von der Tat habe sie nicht viel mitbekommen. „Ich bin eher Ohrenals Augenzeuge,“berichtete sie vor Gericht. Als sie spät nachts von lautem Gebrüll und Krawall geweckt wird, ruft sie die Polizei. Bis zu deren Eintreffen traut sie sich nicht aus dem Haus. Vom Fenster aus beobachtet sie, wie der Angeklagte gemeinsam mit seiner Freundin Richtung Bahnübergang flieht. „Komm Schatz, beeil dich. Der ist tot“, habe er der jungen Frau zugerufen. Bei einem Polizeibeamten, der ihn und seine Freundin später in einem Gebüsch am Schussenufer widerstandslos festnimmt, erkundigt er sich allerdings noch einmal nach dem Zustand seines Opfers. Als der Beamte ihm mitteilt, dass der Mann gestorben sei, soll er geantwortet haben: „Das ist mir scheißegal!“
„Das hat mich schon beeindruckt. Dass man so kaltherzig sein kann, wenn man weiß, der ist gestorben“, erklärte der Polizist, der den Angeklagten bereits von dem Vorfall am Bodenseeufer her kannte. „Pass auf, der hat immer ein Messer“, hatten ihn da schon einige Kollegen gewarnt. Der Angeklagte hatte in seiner Vernehmung angegeben, von dem Deutschen bei der Attacke so massiv gewürgt worden zu sein, dass er sich nur mit dem Messer habe wehren können. Zudem habe er unter erheblichem Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden. Dies ließ sich vor Gericht nicht bestätigen. Auch konnte Rechtsmediziner Sebastian Kunz, ärztlicher Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Ulm, keine Würgemale am Hals des Täters oder andere Kampfspuren wie etwa Hämatome am Auge feststellen. Ihm seien lediglich Bagatellverletzungen in Form von Hautabschürfungen aufgefallen. Das Opfer dagegen habe keine Überlebenschance gehabt. Von den 15 Messerstichen sei einer tödlich und drei potentiell tödlich gewesen. „Die Stiche wurden mit hoher Intensität ausgeführt“, erklärte der Mediziner. Stich Nummer drei habe die Aorta im Brustbereich verletzt, was zu einem massiven Blutverlust geführt habe. Die Verhandlung wird am Dienstag fortgesetzt.