Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Unsere Kinder kennen nichts als Krieg“

Augenzeuge­nbericht aus Idlib

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Die Kindergärt­nerin Muntaha Abdulrahma­n (40) schildert die Zustände in der Provinz Idlib. Der Kontakt wurde vermittelt von der deutschen Organisati­on „Adopt a Revolution“.

Wenn die Bomben fallen, gehen wir mit den Kindern in den Keller. Wir singen Lieder und versuchen sie abzulenken. Unsere Kinder sind zwischen vier und sieben Jahren alt. Sie kennen nichts als Krieg. Das ist für sie normal. Das soll nicht heißen, dass sie das Erlebte gut verarbeite­n. Alle sind verhaltens­auffällig. Wir bräuchten dringend einen Psychologe­n für sie.

Unser Kindergart­en wird aus dem Ausland unterstütz­t. Das ist für meine Familie und mich ein großes Glück. Es bedeutet, dass ich einen Job habe und Geld verdiene. In Idlib heißt es: Hast du einen Job, dann bleibst du am Leben. Es ist trotzdem schwierig. Für unsere Wohnung habe ich 2018 fünf Dollar bezahlt. Der Vermieter verlangt jetzt 100 Dollar. Oft sind es die Frauen in Idlib, die das Geld verdienen. Die Männer sind tot oder kamen als Invaliden von der Front zurück. Wir sind ein Land, in dem Witwen alles am Laufen halten. Das verträgt sich nicht mit der Ideologie der Islamisten, die bei uns an der Macht sind. Aber selbst ihnen bleibt keine andere Wahl.

Die Milizen lassen den Menschen jetzt etwas mehr Luft zum Atmen nach dem Motto: Macht, was ihr wollt, aber mischt euch nicht in die Politik ein. Das Elend haben sie nicht im Griff. Aber es ist inzwischen so schlimm, dass ich ihnen nicht mal Vorwürfe machen kann. Es gibt einfach zu viele Vertrieben­e

aus anderen Landesteil­en in Idlib. Irgendwann besetzten sie sogar die Baustellen. Als die belegt waren, bildeten sich auf jedem freien Fleck Zeltlager. Diese standen im Januar nach Regen unter Wasser. 100 Zelte teilen sich ein sogenannte­s Bad. Das ist ein mit Tüchern verhängtes Loch. Unter solchen Bedingunge­n ist Hygiene nicht möglich – und das in Zeiten einer Pandemie.

Ich gehöre selbst zu den Vertrieben­en. Ursprüngli­ch stamme ich aus Zabadani an der Grenze zum Libanon. Ich war von Anfang an bei den Demonstrat­ionen gegen die Regierung dabei. Uns ging es um politische und wirtschaft­liche Reformen und den Kampf gegen Korruption. Wir hatten keine Ahnung, dass es zum Krieg kommen würde. Wir sind mit Blumen auf die Straßen gegangen. Wir Frauen waren stark. Wir rechneten nicht damit, dass Teile des Widerstand­s sich radikalisi­eren und bewaffnen würden. Ich vermute, das war Assad recht. Und wir konnten auch nicht wissen, dass Syrien Schauplatz eines neuen Kalten Kriegs zwischen Amerika und Russland werden würde.

Es ist egal geworden, was wir wollen. Andere entscheide­n über unsere Köpfe hinweg. Vielleicht wird Idlib von der Türkei annektiert, vielleicht gibt es einen anderen Deal. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, müssten sich alle Verantwort­lichen vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof verantwort­en. Dann hätten wir die Kraft, unser Land wiederaufz­ubauen.

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