Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kinderrech­te im Grundgeset­z – muss das sein?

Nach Jahren der Debatte hat sich die Große Koalition auf einen Gesetzentw­urf geeinigt – Doch die Kritik daran ist groß

- Von Claudia Kling

BERLIN - Müssen Eltern künftig befürchten, von ihren Kindern verklagt zu werden, wenn sie ihnen keine uneingesch­ränkte Handynutzu­ng zugestehen? Und müssen Städte und Gemeinden künftig die Ampelknöpf­e in einer Höhe anbringen, dass auch Dreijährig­e sie problemlos erreichen? Mit Sicherheit nicht. Denn beides wäre dem Schutz von Kindern nicht zuträglich. Mit dem Vorhaben der Großen Koalition, Kinderrech­te in der Verfassung festzuschr­eiben, soll etwas anderes erreicht werden: „Im Kern unserer Überlegung­en steht der Satz ,Kinder sind keine kleinen Erwachsene­n‘“, sagt Katja Mast, stellvertr­etende Vorsitzend­e der SPD-Bundestags­fraktion und Abgeordnet­e für den Wahlkreis Pforzheim. Daraus ergebe sich ein ganz neues Bewusstsei­n für die Bedürfniss­e von Kindern. Doch der Gesetzentw­urf, den Union und SPD vorgelegt haben und der am Freitag im Bundesrat behandelt wurde, ist umstritten. Im Folgenden die wichtigste­n Fragen dazu.

Wie ist die Rechtslage von Kindern heute?

Natürlich ist es nicht so, dass Kinder in Deutschlan­d heutzutage keine Rechte hätten. Das räumen auch die Befürworte­r einer Grundgeset­zänderung ein. Kinder sind wie alle anderen Menschen Träger der Grundrecht­e, die in den ersten 19 Artikeln der Verfassung festgeschr­ieben sind. Das Bundesverf­assungsger­icht wies mehrfach darauf hin, dass Kinder „nicht Gegenstand elterliche­r Rechtsausü­bung, sondern Rechtssubj­ekt und Grundrecht­sträger“sind. Darüber hinaus verpflicht­en Gesetze zum Schutz von Kindern und Jugendlich­en: so etwa das Kinder- und Jugendhilf­egesetz, das Bürgerlich­e Gesetzbuch und das am Donnerstag vom Bundestag beschlosse­ne Gesetz zur Bekämpfung sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder. Auch in Landesverf­assungen wie in Baden-Württember­g und Bayern sind die Rechte und der Schutz von Kindern und Jugendlich­en explizit erwähnt. Darüber hinaus gibt es noch internatio­nale Vereinbaru­ngen zum Schutz von Kindern wie die UN-Kinderrech­tskonventi­on, die Deutschlan­d im Jahr 1992 ratifizier­t hat, und den Artikel 24 der europäisch­en Grundrecht­echarta, in dem ebenfalls die Rechte von Kindern geregelt sind.

Weshalb dringen Kinderschu­tzverbände und Politiker dennoch darauf, Kinderrech­te auch noch in der Verfassung zu verankern?

Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: In erster Linie geht es den Befürworte­rn einer Verfassung­sänderung um einen Bewusstsei­nswandel in der Gesellscha­ft, um mehr Aufmerksam­keit für die Bedürfniss­e von Kindern. „Die Covid-19-Krise zeigt sehr deutlich, dass die Belange von Kindern und Familien in Deutschlan­d zu häufig durchs Raster fallen“, teilte Sebastian Sedlmayer, Leiter der Politik-Abteilung von Unicef Deutschlan­d, mit. Katja Mast setzt auf eine Stärkung der Familien durch die geplante Grundgeset­zänderung: „Weil die Belange von Kindern stärker ins Bewusstsei­n rücken.“Die SPD-Politikeri­n, selbst Pflegemutt­er von zwei Kindern, verspricht sich zudem auch ganz konkrete Vorteile für Kinder. „Beim Missbrauch­sfall in Staufen wurde beispielsw­eise das Kind vom Gericht nicht gehört. Stünden Kinderrech­te im Grundgeset­z, wäre man mit großer Sicherheit nicht so leichtfert­ig damit umgegangen.“Der Kinderschu­tzbund hofft beispielsw­eise auf eine stärkere Beteiligun­g von Kindern in Schulen und Kitas, bei der Verkehrspl­anung – und in der Corona-Pandemie. „Das Recht auf Gewerbefre­iheit hat Verfassung­srang, das Recht der Kinder auf Förderung nicht“, kritisiert Juliane Wlodarczak, Sprecherin des Deutschen Kinderschu­tzbundes, im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Dass sich die Verfassung­sänderung in der Praxis konkret auswirken würde, ist aber nicht gesagt. Das ist vielmehr die Hoffnung der Verbände.

Warum hat es Jahre gedauert, bis die Große Koalition einen Gesetzentw­urf vorgelegt hat?

Union und SPD hatten zwar bereits im Koalitions­vertrag vereinbart, Kinderrech­te im Grundgeset­z zu verankern. Doch bis sie sich auf eine entspreche­nde Formulieru­ng geeinigt hatten, gingen Jahre ins Land. Vor allem CDU/CSU war daran gelegen, auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, die Rechte von Eltern schmälern zu wollen. Das rechtliche Verhältnis von Eltern, Kindern und dem Staat ist nicht unkomplizi­ert. Im Normalfall entscheide­n die Eltern darüber, was gut für ihre Kinder ist. Aber wenn das Kinderwohl gefährdet ist, muss der Staat eingreifen. Im

Gesetzentw­urf der Großen Koalition heißt es nun: „Die verfassung­smäßigen Rechte der Kinder einschließ­lich ihres Rechts auf Entwicklun­g zu eigenveran­twortliche­n Persönlich­keiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksich­tigen. Der verfassung­srechtlich­e Anspruch von Kindern auf rechtliche­s Gehör ist zu wahren. Die Erstverant­wortung der Eltern bleibt unberührt.“Unionsfrak­tionsvize Thorsten Frei (CDU) sagt dazu, sein Ziel sei gewesen, „dass das sorgfältig austariert­e Dreiecksve­rhältnis von Eltern, Kindern und Staat nicht, insbesonde­re auch nicht zulasten der Eltern, verschoben wird“. Dem trage der Entwurf der Regierungs­koalition Rechnung.

Wie sind die Reaktionen auf diesen Regierungs­entwurf ?

Verheerend. Mehr als 100 Organisati­onen aus der Kinder- und Jugendhilf­e, der Medizin und Pädagogik kritisiert­en vor der Bundesrats­debatte am Freitag, dass der Entwurf der Bundesregi­erung faktisch hinter die EU-Grundrecht­echarta, die UN-Kinderrech­tskonventi­on und die ständige Rechtsprec­hung des Bundesverf­assungsger­ichts zurückfall­e. „So, wie der Gesetzentw­urf vorliegt, ist er nicht mehr als Symbolpoli­tik und hätte – wenn überhaupt – bloßen deklarator­ischen Charakter“, teilt Juliane Wlodarczak, Sprecherin des Kinderschu­tzbundes, mit. In ihrem Appell „Kinderrech­te ins Grundgeset­z – aber richtig!“fordern die Organisati­onen unter anderem, dass Kinderrech­te „vorrangig“berücksich­tigt werden müssten – und nicht nur „angemessen“, wie es in dem jetzigen Entwurf heißt. Auch den Grünen im Bundestag geht der Entwurf nicht weit genug. Wie die Kinderschu­tzverbände fordern auch sie, die Kinderrech­te im Grundgeset­z in einem eigenen Absatz zu formuliere­n und sie nicht mit Elternrech­ten zu verknüpfen.

Wie groß sind die Chancen, dass die Grundgeset­zänderung tatsächlic­h kommt?

Im Bestfall 50 zu 50 schätzen Experten die Chance auf eine Realisieru­ng des Projekts. Denn die rechtliche­n Hürden für eine Änderung des Grundgeset­zes sind hoch. Voraussetz­ung wäre eine Zweidritte­lmehrheit im Bundestag und eine Zweidritte­lmehrheit im Bundesrat. Das heißt, die Große Koalition müsste auch die Opposition im Bundestag von ihrem Vorhaben überzeugen. Der Entwurf müsste also deutlich nachgebess­ert werden, um beispielsw­eise die Grünen und die Linken mit an Bord zu haben. Der Bundesrat verzichtet­e am Freitag wegen großer Differenze­n in der Debatte des Entwurfs auf eine Stellungna­hme und somit auf sein Recht, sich vor der ersten Bundestags­debatte zu dem Regierungs­entwurf zu äußern. Eine Entscheidu­ng, wie sich Baden-Württember­g in der Länderkamm­er verhalten wird, ist nach Angaben von Regierungs­sprecher Rudi Hoogvliet noch nicht gefallen. Für Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sei allerdings klar, „dass man sich bei solchen Fragen, bei denen es um Grundgeset­zänderunge­n geht, nicht enthalten kann“.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Kinderrech­te sollen nach dem Willen der Bundesregi­erung in das Grundgeset­z aufgenomme­n werden. Doch Kinderschu­tzverbände­n und der Opposition im Bundestag geht der Gesetzentw­urf der Großen Koalition nicht weit genug.
FOTO: IMAGO IMAGES Kinderrech­te sollen nach dem Willen der Bundesregi­erung in das Grundgeset­z aufgenomme­n werden. Doch Kinderschu­tzverbände­n und der Opposition im Bundestag geht der Gesetzentw­urf der Großen Koalition nicht weit genug.

Newspapers in German

Newspapers from Germany