Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Weniger Herz- und Krebsoperationen in Kliniken
Zahl der Behandlungen in Krankenhäusern ist laut AOK auch in der zweiten Corona-Pandemiewelle zurückgegangen
BERLIN - Das Coronavirus hat das Potenzial, auch Menschen, die nicht damit infiziert sind, schwer zu schaden. Denn es führt dazu, dass Patienten mit anderen Erkrankungen ihre Behandlung verzögern oder verschleppen. Dies geht aus einer Studie hervor, die am Dienstag vom Wissenschaftlichen Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) veröffentlicht wurde. Notfälle wie Herzinfarkte und Schlaganfälle wurden im Pandemiejahr seltener in Kliniken behandelt. Aber auch bei den Krebsoperationen gingen die Fallzahlen zurück. „Wir können angesichts der Zahlen nur den Appell an die Bevölkerung erneuern, bei Notfallsymptomen auch unter den Bedingungen der Pandemie nicht zu zögern, den Notruf zu wählen“, sagt Institut-Geschäftsführer Jürgen Klauber. Im Folgenden die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie.
Wie haben sich die Fallzahlen in den Krankenhäusern entwickelt?
Im Corona-Jahr 2020 haben offensichtlich viele Menschen den Weg ins Krankenhaus gescheut, im Vergleich zu 2019 gingen die Aufnahmen um 13 Prozent zurück. In der Datenauswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) wird auch die zweite Pandemiewelle von Oktober bis Januar 2021 berücksichtigt. In diesen vier Monaten sank die Zahl der Behandlungen von Herzinfarkten demnach um 13 Prozent und von Schlaganfällen um elf Prozent. Eine ähnliche Entwicklung hatte sich bereits bei der ersten Corona-Welle gezeigt, als 16 Prozent weniger Herzinfarkte und zwölf Prozent weniger Schlaganfälle in Krankenhäusern behandelt wurden. Wido-Geschäftsführer Klauber warnte vor den medizinischen Folgen dieser Entwicklung: Patienten kämen zu spät und mit fortgeschrittenen Schädigungen in die Kliniken. Dies führe letztlich zu mehr Todesfällen.
Welche Auswirkung hatte Corona auf Krebspatienten?
Das AOK-Institut hat diese Frage am Beispiel der Fallzahlen bei Brustkrebs
und Darmkrebs ausgewertet. Während der ersten Pandemiewelle ging bei beiden Krebsarten die Zahl operativer Eingriffe deutlich zurück. Dies lässt sich, so Klauber, dadurch erklären, dass das MammografieScreening eine Zeit lang ausgesetzt war und auch weniger Darmspiegelungen gemacht wurden. Während die Zahl der Brust-OPs im weiteren Verlauf des Jahres nur fünf Prozent unter dem Vorjahresniveau lag, waren die Fallzahlen bei Darmkrebs auch in der zweiten Pandemiewelle 20 Prozent unter dem Vergleichszeitraum. Die ambulante Diagnostik sei offenbar auch in dieser Phase der Corona-Krise deutlich reduziert worden, so die AOK.
Welche Folgen hatte Corona für die Krankenhäuser?
Eine Erkenntnis aus der Analyse von rund 59 000 Covid-19-Krankenhausfällen:
Etwa die Hälfte der Kliniken in Deutschland haben 86 Prozent dieser Patienten behandelt. „Die übrigen Fälle verteilen sich auf viele Krankenhäuser mit oftmals sehr kleinen Fallzahlen, die nicht unbedingt optimal für die Versorgung dieser schweren Erkrankung ausgerüstet sind“, so Martin Litsch, Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes. Sein Fazit: Die Zentralisierung und Spezialisierung von Kliniken in Deutschland müsse im Sinne der Patientensicherheit konsequent vorangetrieben werden – dies habe sich gerade in der Pandemie deutlich gezeigt. Auch mit Blick auf die begrenzten personellen Ressourcen fordert der AOK-Chef eine Bündelung von Leistungen an großen Häusern. Es helfe nicht, zusätzliche Intensivbetten aufzustellen und den Bestand an Beatmungsgeräten aufzustocken, wenn qualifiziertes Personal fehle.
Mit diesen Argumenten plädieren Krankenkassen und viele Experten für die Schließung kleinerer Krankenhäuser zugunsten großer Zentren. Auch Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) verfolgt diesen Kurs, erntet dafür in den betroffenen Regionen aber immer wieder Kritik.
Was sagt die Studie über die Behandlung von Covid-19-Patienten?
Wenig Erbauliches. Von den 52 000 Patienten, die zwischen Februar und Ende November stationär behandelt wurden, sind 18 Prozent im Krankenhaus verstorben. Von denjenigen, die künstlich beatmet werden mussten (14,5 Prozent), starb mehr als jeder zweite. Und auch das hat die Analyse bestätigt: Männer haben ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe als Frauen, zwei Drittel der Patienten mit Beatmung waren männlich. Das Durchschnittsalter aller an Covid-19 Erkrankten lag bei 67 Jahren, bei denen mit Beatmung waren es 69 Jahre. Mit der Beatmung nahm auch die Verweildauer in den Kliniken zu – durchschnittlich 33 Tage. Aber auch viele jüngere Patienten haben einen schweren Krankheitsverlauf, wie Wido-Geschäftsführer Klauber betonte. Ein Drittel der Corona-Patienten im Krankenhaus sind demnach jünger als 60 Jahre – und ein Viertel der Beatmeten entfiel auf diese Altersgruppe. Mit Blick auf das Impftempo in Deutschland warnte Klauber davor, dass sich die Intensivstationen angesichts steigender Infektionszahlen schnell mit Menschen mittleren Alters füllen könnten. Doch immerhin eine Nachricht lässt ein wenig hoffen: Im November 2020 nahm die Beatmungsquote und das Sterberisiko im Vergleich zum Frühjahr ab. Dies deutet darauf hin, dass mit Medikamenten bessere Ergebnisse bei der Behandlung von Covid-19 erzielt wurden.
Welchen Einfluss hat die CoronaPandemie auf die Finanzlage der Kliniken?
Laut AOK haben die Kliniken im vergangenen Jahr 9,4 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt für Freihaltepauschalen bekommen und zudem weitere 700 Millionen Euro von den Krankenkassen für zusätzliche Intensivbetten-Kapazitäten. Zudem seien 82 Milliarden Euro aus den Mitteln von Beitragszahlern in die stationäre Versorgung geflossen. Trotz der vielen ausgefallenen Operationen und Behandlungen habe man den Krankenhäusern 1,25 Milliarden Euro mehr als 2019 zur Verfügung gestellt, so AOK-Vorstandschef Litsch. In Summe – mit den Freihaltepauschalen – ergeben sich daraus mehr als zehn Milliarden Euro zusätzlich im Jahr 2020.
Wie reagieren die Krankenhäuser im Südwesten?
„Die reflexhafte Forderung des AOKBundesverbands, wegen Corona den Krankenhausstrukturwandel weiter zu beschleunigen, lehnen wir ab“, teilt Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), mit. Er bezieht sich auf die im Südwesten besonders heiß geführte Debatte um die Schließung kleiner Krankenhäuser – hier musste seit 2010 etwa jede zehnte Klinik dicht machen. Der BWKH-Chef betont, in der Corona-Krise habe sich vielmehr gezeigt, dass es Reservekapazitäten in den Krankenhäusern braucht. Außerdem müssten Kliniken die Fähigkeit haben, sich gegenseitig zu unterstützen. „Die Krankenhauslandschaft im Land ist schon jetzt sehr effizient. Die Krankenhäuser versorgen die Bevölkerung Baden-Württembergs mit einem Fünftel geringerer Kapazität als im Bundesdurchschnitt“, so Einwag. BadenWürttemberg habe mit nur 500 Krankenhausbetten je 100 000 Einwohner die niedrigste Bettenzahl im gesamten Bundesgebiet. Der Bundesdurchschnitt betrage 595 Betten.