Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Immendingens mutiges Manöver
„Vom Garnisonsstandort zum Wirtschaftsstandort.“
Die Gemeinde bei Tuttlingen hat aus der Not eine Tugend gemacht – Wie aus dem Standortübungsplatz die Teststrecke des Autobauers Daimler wurde
Lenken, bremsen, anhalten, losfahren: Die Luxuslimousine, eine Mercedes-S-Klasse, hält Spur und Geschwindigkeit. Doch was macht der Fahrer? Er sitzt zwar auf dem Fahrersitz, widmet sich aber offensichtlich einer Videokonferenz. Die Hände hat er nicht am Lenkrad, sondern auf dem Tablet. Für längere Zeit wendet er sich vom Verkehrsgeschehen ab. Darf er das? „Ja, er darf“, sagt Reiner Imdahl, der Leiter des Prüf- und Technologiezentrums der Daimler AG in Immendingen (Landkreis Tuttlingen), „hier in Immendingen haben wir Fahrzeuge entwickelt, die hochautomatisiert fahren, wir nennen es ,Autonomes Fahren nach Level 3’“. Der Fahrer muss allerdings jederzeit bereit sein, die Kontrolle wieder zu übernehmen, wenn das Fahrzeug ihn dazu auffordert. Er muss also fahrtüchtig sein, aufmerksam und im Besitz eines Führerscheins.
Dass die im Herbst vorgestellte S-Klasse ab Sommer 2021 in der Lage sein wird, auf der Autobahn längere Strecken komplett selbstständig zu fahren, erfüllt Imdahl mit Stolz: „Als vor genau zehn Jahren die ersten Gespräche zwischen der Daimler
AG, der Gemeinde Immendingen, dem
Land Baden-Württemberg und dem Bundesverteidigungsministerium über die künftige Nutzung des damaligen Standortübungsplatzes und der OberfeldwebelSchreiber-Kaserne begannen, war nicht abzusehen, dass Autofahrer vor allem von den hier entwickelten Assistenzsystemen so stark profitieren würden.“Auch das Megathema Elektromobilität ist in Immendingen angekommen: „Natürlich kann man viel im Labor entwickeln, aber die Verkehrssituationen mit Kreuzungen, Steigungen und Gefällstrecken haben wir nur hier.“
Rückblende ins Jahr 2010: Nach einer Koalitionsentscheidung der Regierung aus CDU und FDP soll die Bundeswehr von seinerzeit 235 000 auf bis zu 185 000 Soldaten verkleinert werden. Das heißt: Etliche Standorte müssen geschlossen werden, meist gegen den erbitterten Widerstand der betroffenen Städte und Gemeinden. In Immendingen setzt sich Volker Kauder, damals wie heute CDU-Wahlkreisabgeordneter,für den Erhalt der Kaserne ein, in der etwa 1200 Soldaten Dienst tun. Kauder, seinerzeit Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, hat großen Einfluss. Und er erhält die Zusage des damaligen Bundesverteidigungsministers Thomas de Mazière (CDU), dass die Kaserne Bestand haben werde.
Gleichzeitig sind für die Daimler AG Reiner Imdahl, damals Leiter der Prüfeinrichtungen, und Lothar Ulsamer, Leiter der Abteilung Politik und Außenbeziehungen, in ganz Baden-Württemberg unterwegs, um ein Gelände zu finden, auf dem der Autobauer alle Prüfaktivitäten weltweit bündeln und Fahrzeuge bis zur Serienreife testen kann: „120 Standorte haben wir analysiert“, erinnert sich Imdahl. Doch man kommt nicht gut voran: Widerstände von Landwirten, Umweltschützern oder Grundstücksbesitzern führen regelmäßig dazu, dass kein Zuschlag zustande kommt. 2010 scheitern Gespräche in Sulz, Merklingen und Kirchentellinsfurt.
In Immendingen wiederum ist seit kurzer Zeit mit Markus Hugger ein neuer Bürgermeister im Amt, der anders als sein Vorgänger das Schicksal der 6500-EinwohnerGemeinde nicht auf Gedeih und Verderb mit dem Militär und unsicheren Aussichten verbinden möchte. Das französische Husarenregiment hat angekündigt, die Kaserne im Mai 2011 zu verlassen. In Immendingen stehen 300 Wohnungen leer. Der Kaufkraftverlust ist enorm. Und Bundesverteidigungsminister de Maizière kündigt über kurz oder lang weitere Standortschließungen an. Wäre Immendingen davon betroffen, würden alle 1200 Dienstposten bei der Bundeswehr ersatzlos wegfallen. Also sucht Hugger, der von der verzweifelten Suche der Daimler-Leute weiß, das vertrauensvolle, streng geheime Gespräch mit der Daimler AG. „Als vorausschauende Gemeindeverwaltung wollten wir uns frühzeitig auf alle erdenklichen Szenarien einer Bundeswehrreform vorbereiten“, begründet Hugger später sein Engagement. „Mit der Ansiedlung von Daimler hatte unsere Gemeinde die einmalige Chance, sich vom Garnisonsstandort zum Wirtschaftsstandort zu entwickeln.“
Rückendeckung bekommt Hugger vom damaligen Tuttlinger Landrat
So beschreibt der damalige Immendinger Bürgermeister Markus Hugger das Ziel seiner Politik.
und heutigen Justizminister Guido Wolf (CDU): „Ich habe Markus Hugger ermutigt, obwohl die Gefahr, anschließend zwischen allen Stühlen zu sitzen, ohne Bundeswehr und ohne Daimler, durchaus bestand“, sagt Wolf heute.
Für die Daimler AG kommt der Gesprächskontakt mit der kleinen Gemeinde im Donautal zum richtigen Zeitpunkt. Denn: „Wir haben stets betont, dass Konversionsflächen bei unserer Standortsuche oberste Priorität haben“, sagt Lothar Ulsamer damals. Eine erste Analyse in Immendingen ergibt, dass es auf dieser Fläche keine grundsätzlichen Ausschlusskriterien für ein Prüf- und Technologiezentrum gibt.
Hugger bindet Volker Kauder in die Verhandlungen ein. Kauder erinnert sich: „Als ich den Minister, der gerade noch den Erhalt des Standortes garantiert hatte, bat, die Kaserne nun doch aufzugeben, war de Maizière ungehalten und fragte mich: ,Geht’s noch? Bis gestern wolltest du doch das exakte Gegenteil.’“Als aber im Herbst 2011 aus der Mitte des Immendinger Gemeinderats die Bitte ans Ministerium geäußert wird, die Kaserne zu schließen, gibt der Minister sein Okay.
Unmittelbar danach kommen vom Stuttgarter Autobauer positive Signale. Daimler werde sich mit seinen Planungen für ein Testzentrum nur noch auf diesen Standort konzentrieren. Die Gemeinden Sulz (Kreis Rottweil) und Merklingen (Alb-Donau-Kreis), die ebenfalls gerne Standort der Daimler-Teststrecke geworden wären, sind damit endgültig aus dem Rennen.
Der Techniker Imdahl und der Politikwissenschaftler Ulsamer sind anschließend im Landkreis Tuttlingen pausenlos unterwegs. Ihr Geheimnis: Sie hören zu. Die Naturschutzverbände können mitreden und mitgestalten, anstatt nur dagegen zu sein. So werden beispielsweise Wildtiertunnel gebaut, damit Tiere das Gelände ungehindert auf ihren Streifzügen passieren können.
Nach den Abfuhren andernorts sagt Imdahl auch heute noch: „Die Gemeinde Immendingen ist für uns ein echter Glücksfall. Denn hier waren wir vom ersten Moment an mit unserem Prüf- und Technologiezentrum willkommen und wurden mit offenen Armen begrüßt.“Bei der öffentlichen Vorstellung verteilen Immendinger Bürger Anstecker-Buttons mit der Aufschrift „Ein Stern für Immendingen“. Justizminister Wolf erinnert
Die Luftaufnahme zeigt das Daimler Prüf- und Technologiezentrum in Immendingen: mittig ein Blick auf die Simulationsstrecke „Stadt“. Links hinten ist der Ortskern von Immendingen zu sehen. Unten: der Schnellfahrrundkurs. Das untere Foto zeigt den Nachbau einer Passstraße mit engen Kurven und Steigungen. sich: „Immendingen zeigt, dass die Bevölkerung auch für Großprojekte zu begeistern ist, wenn man sie richtig kommuniziert.“
Einzig die Soldaten, deren Einheiten nach Stetten am kalten Markt (Landkreis Sigmaringen) umziehen müssen, sind verschnupft: „Wir waren natürlich alle überrascht und geschockt. Gerade die Soldaten und Mitarbeiter, die mit ihren Familien in der Region wohnen, sind enttäuscht“, sagt der damalige Kommandeur des Artilleriebataillons 295, Oberstleutnant Jörg Hoogeveen: „In Gesprächen mit Soldaten und Mitarbeitern konnte ich feststellen, dass sie die Absicht der Gemeinde durchaus verstehen und respektieren, aber die Art und Weise, wie man sie als Betroffene darüber informiert hat und mit ihnen umgeht, können sie nicht akzeptieren.“
Zeitsprung ins Jahr 2021: Auf dem ehemaligen Standortübungsplatz testet und prüft die Daimler AG seit Herbst 2018 Tag und Nacht ihre Pkw. Hier sind die noch nicht präsentierten Erlkönige unterwegs, also die getarnten Neuschöpfungen. Auf mehr als 30 verschiedenen Test- und Prüfstrecken auf einer Fläche von 520 Hektar werden in Immendingen alternative Antriebe wie Hybride und Elektrofahrzeuge weiterentwickelt sowie künftige Assistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen erprobt und in Dauerläufen
validiert. Auf einer Streckenlänge von insgesamt 68 Kilometern, Asphalt und Schotter, Berg- und Talfahrten, Schnellfahrstrecken lassen sich unterschiedlichste Situationen simulieren wie zum Beispiel komplizierter Kreuzungs-Verkehr in der Großstadt, Fahrten auf holprigem Kopfsteinpflaster oder auf einer Passstraße von bis zu 16 Prozent und serpentinenartigen Kurvenradien. „Am Computer lässt sich viel berechnen, aber am Ende bleiben Testfahrten auf richtigen Straßen unumgänglich. Dabei wird man immer wieder feststellen, dass die Wirklichkeit stets Überraschungen bereithält, die der Computer nicht bedacht hat“, sagt Imdahl.
Doch nicht nur dort, wo früher Panzer rasselten, wird an neuer Technologie gearbeitet, auch die ehemaligen Kasernengebäude haben die Ingenieure für sich entdeckt. Reiner Imdahl erläutert: „Wir wollten ja eigentlich nur ein Testgelände erwerben, keine Kaserne dazu! Dass etwa 100 Gebäude Platz für ganz viele weitere Aktivitäten bieten würden, hatten wir anfangs nicht auf dem Schirm, mussten diese Chance erst im Konzern bekannt machen.“In den Reihen der Fahrzeugentwickler spricht sich schnell herum, welche Möglichkeiten Immendingen bietet: „Heute ist dort das Mercedes-Korrosionszentrum ebenso beheimatet wie ein Emissionslabor.“Fachleute, die Verkehrsbedingungen auf 4000 Metern
Höhe, in chinesischen Wüsten mit zweistelligen Minusgraden oder afrikanischer Hitze simulieren, arbeiten dort. Imdahl: „Gerade für die Batterietechnik, die auf Kälte empfindlich reagiert, sind solche Versuche wichtig.“Schließlich werden Technologien für den neuen europäischen Verbrauchszyklus entwickelt.
300 Arbeitsplätze allein im Prüfund Technologiezentrum sind in den vergangenen Jahren entstanden, mehr als 200 Millionen Euro hat Daimler investiert. Im angrenzenden Gewerbegebiet haben sich Dienstleister wie die Bertrandt AG niedergelassen, die die Testfahrer stellt. Und in Immendingen gibt es heute weder Leerstand auf dem Wohnungsmarkt noch Bauland: „Viele Mitarbeiter sind hierher umgezogen“, sagt Imdahl.
Wie geht es den Soldaten? „Wir sind hier in Stetten am kalten Markt gut angekommen“, bilanziert Oberstleutnant Thomas Kopsch, seit 2019 Kommandeur des Artilleriebataillons 295, „der Standort bietet alles, was wir brauchen“. Der Offizier ist von der Partnerschaft mit der Gemeinde begeistert: „Im Gemeinderat werden unsere Anliegen besprochen.“Wäre die Pandemie nicht dazwischengekommen, hätte es im vergangenen Jahr auch ein Bataillonstanzfest gegeben berichtet er. Und die militärischen Rahmenbedingungen passen, „weil wir mit allen Systemen üben können“. Ob Panzerhaubitze 2000, Drohne „Kleinfluggerät für Zielortung“oder Raketenwerfer: „Wir können damit raus auf den Übungsplatz.“Der Dienstweg zu den anderen Einheiten am Standort – Feldjäger oder Kampfmittelräumer beispielsweise – sei kurz: „Dann kann auch mal ein Diensthund mit meinen Leuten üben.“Bleibt der Wermutstropfen der fehlenden Anbindung an Autobahnen oder ICE-Strecken: „Das war in Immendingen besser.“
Was bringt die Zukunft in Immendingen? Wann kommt die nächste Stufe fürs autonome Fahren? Bei Level 4 agieren die Fahrzeuge unter vorgegebenen Umständen – etwa auf der Autobahn, in der Stadt oder in eingeschränkten Gebieten – schon komplett eigenständig. Der Fahrer muss aber bereit sein, auf Hinweis des Autos die Kontrolle zu übernehmen. Erst bei Level 5 können die Fahrzeuge unter allen Umständen autonom unterwegs sein. Wie alle Premiumhersteller hält sich auch Daimler bei Aussagen zur Verfügbarkeit dieser Entwicklungsstufen für „Otto Normalfahrer“bedeckt. Nur eins ist nach Imdahls Worten sicher: „Wir arbeiten dran – und zwar auch hier in Immendingen.“ ●