Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Inzidenzwert sinkt: Schulen bleiben vorerst offen
Kinderärztin: „Viele Kinder leiden unter der Situation“– Ungewissheit zermürbt
TETTNANG/BODENSEEKREIS Schule auf, Schule zu: Ist bald wieder für alle Lernen auf Distanz angesagt? Steigen die Zahlen im Bodenseekreis wieder, droht über kurz oder lang die Bundesnotbremse. Lag die SiebenTages-Inzidenz am Sonntag noch bei 171 (Landratsamt Bodenseekreis) ist sie am Montagnachmittag nach Angaben des Robert-Koch-Instituts wieder auf 160,5 gesunken.
Eine Schulschließung ist besonders bitter für diejenigen Schüler, die seit vier Monaten am heimischen Schreibtisch lernen. Also Schüler ab der fünften Klasse, die in diesem Schuljahr keinen Abschluss ablegen, oder eine sonderpädagogische Bildungseinrichtung besuchen. Für sie wäre dann nach drei Tagen Präsenzunterricht wieder Schluss.
„Viele Kinder und Jugendliche leiden unter dieser Situation. Diese dauernde Ungewissheit bereitet ihnen Angst und Sorge“, berichtet die Kinderärztin und zweifache Mama Susanne Schwarz. „Vor allem sensible Kinder können das kaum aushalten.“Immer deutlicher trete zu Tage, dass die Politik keine Perspektiven bieten kann. Und das belastet.
Das unterstreicht auch Steffen Rooschüz, geschäftsführender Schulleiter der Häfler Schulen: „Es ist mental sehr anstrengend auszuhalten, dass nichts sicher ist. Für die Lehrerinnen und Lehrer, für die Eltern – vor allem aber für die Schülerinnen und Schüler.“
Am Wochenende sind die Corona-Fallzahlen im Bodenseekreis erneut deutlich angestiegen. Seit Sonntag liegt die Sieben-Tages-Inzidenz, die den Wert der Corona-Neuinfektionen der letzten sieben Tage pro 100 000 Einwohner angibt, über 165. Halten sich die Zahlen drei Tage lang über diesem ausschlaggebenden Warnwert, greift die sogenannte Bundesnotbremse.
Diese Entwicklung ist besonders bitter für viele Kinder und in großem Maße auch für die Jugendlichen, die sich eigentlich vom Elternhaus abnabeln wollen – stattdessen aber seit Monaten eingesperrt sind. Zum Beispiel für den 13-jährigen Sohn von Handan Sonbay: „Er leidet sehr unter der Situation“, berichtet sie. Am Montag hat er das erste Mal seit vier Monaten wieder das Karl-MaybachGymnasium betreten, um gemeinsam mit seinen Klassenkameraden der achten Klasse zu lernen. „Es ist schade, dass er vielleicht nicht mal die ganze Woche in der Schule sein darf “, sagt seine Mutter.
Eine andere Mutter, die ihren Namen nicht öffentlich nennen möchte, findet klare Worte und macht ihrem Unmut Luft: „Ich bin echt sauer. Man kann so etwas Wichtiges, wie die Bildung unserer Kinder, doch nicht von einer ,gewürfelten Zahl’ abhängig machen.“Seit einer Woche gilt für Schulkinder eine Testpflicht, ansonsten dürfen sie ihre Schule nicht betreten.
„Ich verstehe das nicht“, ärgert sich die Dreifachmama. „Jetzt werden alle Kinder regelmäßig getestet und sitzen, wegen der Inzidenz über 100, nur in halber Klassenstärke mit Maske im Gesicht in den Räumen.“Sie schnauft einmal durch, ehe sie resigniert nachsetzt: „Im Sinne der Kinder hoffe ich so sehr, dass dieser Irrsinn bald aufhört! Genaugenommen habe ich beim Einkaufen an der Kasse ein höheres Infektionsrisiko.“
Ähnlich klingt auch Steffen Rooschüz, obwohl er und seine Schulleiterkollegen alle Anstrengungen unternehmen, den Alltag für die Kinder so normal wie möglich zu gestalten: „So wie es aussieht müssen wir bald wieder zusperren“, sagt er ein wenig resigniert. „Obwohl wir als Gesellschaft diverse Anstrengungen unternehmen, rückt es in immer noch weitere Ferne, dass wir alles wieder in den Griff bekommen.“
Als geschäftsführender Schulleiter in Friedrichshafen ärgert es Rooschüz besonders, dass die Politik nicht anerkennt, wie sehr die Schulen sich bemühen, den Schulbesuch sicher zu gestalten. „Wir fahren gut mit Abstand, Maske, Lüften und jetzt auch Testen.“Seine Sorge gilt vielmehr der unkontrollierten Ausbreitung,
wenn die Schule mit ihren kontrollierten Bedingungen als Ort der sozialen Begegnung wegfällt. Dann verschieben sich Treffen wieder mehr in den privaten, unkontrollierten Raum, mutmaßt Rooschüz.
Eine erneute Schulschließung an den Inzidenzwert über drei Tage zu koppeln, sei aus seiner Sicht nicht ideal, sagt Jürgen Stohr, geschäftsführender Schulleiter der Tettnanger Schulen und Rektor der Realschule. „Ich hätte es besser gefunden, das wie in Bayern wöchentlich zu entscheiden.“
Susanne Schwarz
„Der Stundenplan wurde zum Teil eigens für die Testungen umgestellt“, erklärt Stohr. Auf organisatorischer Seite bedeute es einen enormen Aufwand, wenn sich die Vorgaben so häufig ändern. Derzeit sind alle weiterführenden Schulen in Tettnang im sogenannten Wechselunterricht – je eine Hälfte der Klasse ist in einer Woche im Präsenzunterricht und in der anderen Woche im Homeschooling.
Für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die sich im Fernunterricht befinden, werde der Unterricht aus dem Klassenzimmer in vielen Fächern live im Internet übertragen, sodass diese auch vom heimischen Schreibtisch aus den Unterricht mitverfolgen könnten, erklärt Stohr.
Auch wenn er eine Schulschließung „natürlich schweren Herzens“umsetzen würde, sei dies seiner Ansicht nach dennoch die vernünftigste Entscheidung. „Angesichts der Inzidenzen ist dieser Schritt natürlich notwendig“, sagt Stohr. Denn auch wenn an der Schule regelmäßig getestet werde, sei dadurch trotzdem nicht gewährleistet, dass alle Infektionen immer erkannt werden, da nicht täglich getestet werde.
Klar sei aber auch: Je länger die Kinder nicht an der Schule präsent seien, desto mehr würden Probleme und Herausforderungen wachsen, die die Situation mit sich bringe – etwa bei Kindern, die nicht den erforderlichen Rückhalt aus dem Elternhaus oder Probleme beim Homeschooling hätten, stellt Stohr klar.
Um ihren Söhnen die Enttäuschung einer Schulschließung nach wenigen Tagen im Klassenverband zu ersparen, hat Stephanie Merk sie gleich vom Präsenzunterricht in der Bodenseeschule befreien lassen: „Ich habe mich aus verschiedenen Gründen dazu entschieden, unter anderem aber weil es absehbar war, dass die Schulen schnell wieder schließen werden.“
Die zweifache Mutter Andrea Steiner hat sich mit der Situation abgefunden. „Da ich sehr flexibel im Homeoffice arbeiten kann, funktioniert das Homeschooling bei uns ganz gut. Auch wenn meine Kinder ihre Klassenkameraden vermissen.“Ihre Kinder besuchen die Grundschule in Leimbach beziehungsweise die Gemeinschaftsschule in Salem.
Allerdings bemängelt Steiner die Qualität des Fernlernunterrichts. Diese habe stark nachgelassen, seit die Klassen im Wechsel unterrichtet werden. Sechstklässlerin Sofie habe kaum noch Videokonferenzen und die Anwesenheit werde auch nicht mehr geprüft. „Die Kinder sind sich allerdings einig, dass ihnen daheim lernen besser gefällt, als das Testen für die Schule und den ganzen Vormittag mit Maske zu verbringen“, sagt Steiner. „Das stresst sie mehr als alles andere.“
„Diese dauernde Ungewissheit bereitet vielen Kindern Angst und Sorge.“