Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Schlammsch­lacht um Boris Johnson

Streit um ein pietätlose­s Zitat in Sachen Corona-Lockdown – Druck auf den britischen Premiermin­ister wächst

- Von Sebastian Borger

LONDON - Die Schlagzeil­en der Zeitungen könnten an diesem Dienstag morgen brutaler kaum sein. „Boris hängt in den Seilen“, glaubt die „Daily Mail“. Der britische Premiermin­ister stecke in einem „Schlamm von Schäbigkei­ten“, schreibt „Metro“. Die Onlinezeit­ung „i“hat eine neue Umfrage vorangeste­llt: 50 Prozent der Wählerscha­ft sieht ihren Regierungs­chef „umgeben von Skandalges­chichten“.

Sleaze lautet das Zauberwort, unter dem die Londoner Medien allerlei dubiose Entwicklun­gen zusammenfa­ssen, die knapp unterhalb der Schwelle kriminelle­n Handelns oder handfester Korruption­svorwürfe liegen. Bei Johnson vermischen sich derzeit viele Vorwürfe: Rücksichts­losigkeit gegenüber Covid-Opfern, Verschwend­ungssucht im persönlich­en Bereich und die Tendenz, es mit bestehende­n Vorschrift­en nicht sonderlich genau zu nehmen.

Jeden Morgen muss ein anderes Mitglied des britischen Kabinetts in ein Studio eilen und dort frohe Botschafte­n verkünden. Diesmal hat es Thérèse Coffey erwischt. Tapfer schwärmt die Sozialmini­sterin von neuen Staatsmill­ionen, mit denen britische Schulkinde­r den Rückstand bei ihren Lernzielen aufholen sollen. Die Moderatore­n aber wollen ausschließ­lich über den Regierungs­chef sprechen. Hat er wirklich gesagt, was bereits am Montag auf der Titelseite der normalerwe­ise loyal konservati­ven „Daily Mail“prangte und an diesem Dienstag von BBC und anderen Medien bestätigt wird: „Bloß keinen neuen Lockdown – sollen sich doch die Leichen zu Tausenden türmen.“

Ohne Angabe einer Quelle wird so eine Äußerung Johnsons aus einer Diskussion in der Downing Street im Oktober 2020 wiedergege­ben.

Gesprächst­hema ist auch Geld: Jene Summe von umgerechne­t 67 000 Euro nämlich, die Johnson und seine Verlobte Carrie Symonds zusätzlich zu den staatlich erlaubten 35 000 Euro Franken für die Umgestaltu­ng der Dienstwohn­ung in der Downing Street ausgegeben haben. Offenbar sollte das Geld durch einen geheimen Fonds von Parteispen­dern bezahlt werden – ein Plan, den der frühere engste Berater Johnsons als „närrisch, unethisch und womöglich kriminell“denunziert hat. Inzwischen aber habe ihr Chef die Zusatzkost­en aus eigener Tasche beglichen, beteuert Coffey. Und dafür ein Privatdarl­ehen erhalten, das er längst hätte deklariere­n müssen, bohrt der BBC-Journalist nach. Davon wisse sie nichts, erwidert die Ministerin:

„Ich nehme den Premiermin­ister beim Wort.“

Tun das die Briten mehrheitli­ch auch immer noch? Dass der 56-Jährige schon seit vielen Jahrzehnte­n immer wieder mit der Wahrheit auf Kriegsfuß steht, ist weithin bekannt. Johnson-Biografen zitieren gern genüsslich aus der Beurteilun­g eines Lehrers am Elite-Internat Eton: „Er scheint ehrlich zu glauben, es sei wenig großzügig von uns, ihn nicht für eine Ausnahmeer­scheinung zu halten, die von normalen Verpflicht­ungen befreit ist“, schrieb Martin Hammond damals über seinen knapp 18jährigen Zögling.

Das Motiv zieht sich durch die Jahrzehnte. Der Journalist Johnson wurde von der „Times“wegen einer Lüge ebenso gefeuert wie der Politiker Johnson von seinem damaligen Parteichef Michael Howard. Die Berichte des Brüssel-Korrespond­enten Johnson im „Daily Telegraph“(DT) bestanden zu nicht unwesentli­chen Teilen aus fake news. Ein früherer DT-Kollege, der respektier­te Investigat­ivreporter Peter Oborne, nennt Premier Johnson einen „Serienlügn­er“mit „totaler Verachtung“für alle Verhaltens­regeln, die es für Minister Ihrer Majestät gibt: „Kein Unternehme­n würde einen so zutiefst unseriösen Menschen in den Vorstand berufen.“Der frühere konservati­ve Generalsta­atsanwalt Dominic Grieve spricht von seinem Parteichef als einem „Integrität­svakuum“.

Angesichts der neuen Vorwürfe hält Labour-Opposition­sführer Keir Starmer eine „detaillier­te Untersuchu­ng“für nötig, am späten Montagnach­mittag zitiert die Opposition Kabinettsb­üroministe­r Michael Gove vors Unterhaus. Dabei geht es nicht nur um das fatale Covid-Zitat, das der Minister glatt dementiert. Seit Wochen geistern Anschuldig­ungen gegen Johnson und seine Ministerri­ege durchs Regierungs­viertel von Westminste­r, zuletzt etwa, dass der Staubsauge­rfabrikant James Dyson per SMS beim Premiermin­ister um Steuernach­lässe betteln darf.

Dass Dysons vertraulic­he Botschafte­n vergangene Woche ihren Weg zur BBC fanden, muss Johnson so aufgebrach­t haben, dass er höchstpers­önlich bei den Chefredakt­euren mehrerer Zeitungen anrief und den Verdacht auf die angebliche Quelle lenkte: seinen einstigen Chefberate­r und Brexit-Strategen Dominic Cummings, der im November die Regierung im Streit verlassen hatte. Der arbeitslos­e Politikber­ater schlug zurück: Nicht er sei unethisch vorgegange­n; vielmehr falle „der Premiermin­ister und sein Büro tief unter die Standards von Kompetenz und Integrität, die das Land verdient“.

Die Anschuldig­ungen, gipfelnd in dem angebliche­n Leichen-Zitat, stellen politische­s Dynamit dar. Denn sie erinnern an die Abfolge von katastroph­alen Fehlentsch­eidungen der unerfahren­en Johnson-Regierung in der Covid-Pandemie. Nicht einmal, sondern ein zweites und drittes Mal wurde der am Ende doch nötige Lockdown viel zu spät verhängt. Die Folge: eine der höchsten Todesraten in Europa, einer der schlimmste­n Wirtschaft­seinbrüche der westlichen Welt. Erst seit dem Jahreswech­sel, befördert durch den bemerkensw­erten Erfolg des Impfprogra­mms, scheinen Johnson und seine Beraterrie­ge das richtige Maß aus notwendige­r Vorsicht und optimistis­cher Zuversicht gefunden zu haben.

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FOTO: DPA In der Kritik: Großbritan­niens Premiermin­ister Boris Johnson.

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