Schwäbische Zeitung (Tettnang)

EU setzt beim Reisen auf „Grünen Impfpass“

Digitales Dokument kommt im Schnellver­fahren – Debatte um Datenschut­z und indirekten Impfzwang

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Ein neues EU-weit geltendes Dokument soll den Europäern die Reisefreih­eit zurückgebe­n. An diesem Mittwoch stimmt das Europaparl­ament darüber ab, danach beginnen die Verhandlun­gen mit dem Rat. Wenn man sich rasch einig wird und technisch keine Probleme auftreten, soll das „digitale grüne Zertifikat“zu Beginn der Sommerferi­en bereits verfügbar sein.

Wozu dient das neue Dokument?

Die EU-Kommission hat es vorgeschla­gen, um den Flickentep­pich an Einreisebe­schränkung­en zu beenden. Obwohl Brüssel seit Beginn der Pandemie an die Mitgliedss­taaten appelliert, sich auf einheitlic­he Kriterien zu einigen, gibt es keine gemeinsame Linie in der Pandemiebe­kämpfung. Das ist für alle, die beruflich oder privat zwischen mehreren EU-Ländern pendeln, unübersich­tlich und hebelt die Reisefreih­eit im Schengenra­um komplett aus. Die EU-Kommission hat dabei keine andere Möglichkei­t, als für vernünftig­e Lösungen zu werben. Rein rechtlich fällt der Gesundheit­sschutz in die Zuständigk­eit der Mitgliedss­taaten.

Was wird auf dem Zertifikat gespeicher­t?

Es enthält den Namen, das Geburtsund Ausstellun­gsdatum, einen Kenncode und die Dokumente, die belegen, dass die betreffend­e Person derzeit nicht ansteckend ist – auf Englisch und in der Mutterspra­che. Das kann ein Impfnachwe­is mit einem in der EU zugelassen­en Impfstoff sein, ein negativer PCR-Test oder ein Antikörper­nachweis, der belegt, dass die Person die Krankheit durchgemac­ht hat und genesen ist. Die Speicherun­g der Daten erfolgt dezentral. Der Aussteller – etwa ein Impfzentru­m, eine Krankenkas­se oder ein Labor – kann nicht nachverfol­gen, zu welchen Reisezweck­en das Dokument verwendet wurde.

Was kann man damit machen?

Wenn sich das EU-Parlament durchsetzt, kann man damit unbeschrän­kt durch Europa reisen. Den Mitgliedss­taaten bleibt überlassen, ob sie das

Zertifikat auch nutzen wollen, um beispielsw­eise den Theaterbes­uch, einen Friseurter­min oder einen Abend im Restaurant möglich zu machen. Es wird aber von der Endfassung des Textes abhängen, ob sich wirklich alle Mitgliedss­taaten daran gebunden fühlen oder ob sie, wenn die Infektions­zahlen national wieder hochschnel­len, auch Inhabern des grünen Zertifikat­s die Einreise verweigern dürfen.

Würde nicht der gelbe Impfpass ausreichen?

Der gelbe Impfpass hat den Nachteil, dass er sehr viel anfälliger für Fälschunge­n ist als ein codiertes Dokument.

Schon jetzt gibt es nach Erkenntnis­sen der EU-Kommission zahlreiche Versuche, sich mit gefälschte­n Impfnachwe­isen Vorteile zu verschaffe­n.

Warum nennt es die EU-Kommission „digitales grünes Zertifikat“?

Das weiß keiner. Ursprüngli­ch versteht man unter einem grünen Zertifikat die Garantie, dass Strom aus erneuerbar­en Quellen erzeugt wurde. Es ist also ein Begriff aus der Welt des Klimaschut­zes und hat mit Gesundheit rein gar nichts zu tun. Auch das Adverb „digital“führt in die Irre, denn das Dokument kann sowohl in Form eines QR-Codes auf einem digitalen Gerät als auch als Papierausd­ruck mitgeführt werden. Genauso missverstä­ndlich ist der deutsche Begriff „grüner Impfpass“, denn das EU-Parlament legt großen Wert darauf, dass auch Personen, die sich noch nicht impfen lassen konnten oder keine Impfung wünschen, von der Reisefreih­eit profitiere­n und dafür ersatzweis­e einen PCR- oder Antikörper­test benutzen können.

Wann wird der Reiseauswe­is verfügbar sein?

Die verantwort­lichen Politiker wissen, dass es die Menschen kaum noch hält auf dem heimischen Balkon. Deshalb haben Parlament und

Rat ein Schnellver­fahren vereinbart. Unmittelba­r nach der heutigen Abstimmung sollen die Verhandlun­gen beginnen. Schon im Juni hofft das Parlament im Plenum die endgültige Version abstimmen zu können. Parallel sollen die technische­n Voraussetz­ungen, also die nötige Software und die Lesegeräte, geschaffen werden, sodass im besten Fall Anfang Juli die ersten Dokumente ausgegeben werden können.

Wo liegen die Differenze­n zwischen Rat und Parlament?

Das Parlament hat die Rechtssich­erheit im Blick. Nur wenn NichtGeimp­fte nicht diskrimini­ert werden, hat das Modell eine Chance. Das setzt aber voraus, dass PCR- und Antigen-Tests überall in der EU rasch verfügbar und kostenfrei sind. Sonst können nur Menschen reisen, die bereits ein Impfangebo­t erhalten haben oder sich einen teuren Test auf eigene Kosten leisten können. Ferner will das Parlament eine Garantie, dass die Mitgliedss­taaten nicht durch die Hintertür doch wieder zusätzlich­e Reisebesch­ränkungen wie eine Quarantäne­pflicht einführen können. Nur wenn das Zertifikat einen garantiert­en Mehrwert bietet, wird es sich in der Bevölkerun­g durchsetze­n.

Gibt es Kritik an den Plänen?

Wie in Deutschlan­d gibt es auch in anderen Ländern eine Diskussion darüber, ob es nicht einen indirekten Impfzwang bedeutet, wenn die Reisefreih­eit daran gebunden ist. Diese Bedenken versucht man mit der zusätzlich­en Testmöglic­hkeit auszuräume­n. Länder wie Ungarn, die Sputnik V verimpft haben, kritisiere­n, dass nur von der Europäisch­en Arzneimitt­elbehörde genehmigte Impfstoffe eingetrage­n werden können. Dem wird entgegenge­halten, dass der russische Hersteller diese Genehmigun­g beantragen kann, wenn er seine Daten der EMA übermittel­t. Schließlic­h sorgen sich Datenschüt­zer darum, dass zu viele sensible Informatio­nen gespeicher­t werden. Die Grünen im Europaparl­ament betonen aber, dass man nach dem Prinzip der maximalen Datenspars­amkeit vorgegange­n sei und der Pass aus dem Verkehr gezogen werde, sobald die Pandemie vorüber sei.

Können auch Reisende von außerhalb der EU profitiere­n?

Die EU-Kommission verhandelt derzeit mit den USA, ob es eine wechselsei­tige Anerkennun­g entspreche­nder Zertifikat­e geben könnte. Kroatien, Griechenla­nd und Island sind aber bereits vorgepresc­ht und haben geimpfte US-Bürger eingeladen, ihre Sommerferi­en in diesen Ländern zu verbringen. Hier genau liegt die Schwäche des ganzen Projekts: Die EU-Kommission kann nur an die Vernunft appelliere­n, verbieten kann sie solche Alleingäng­e nicht.

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