Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Monsieur Brexit strebt in den Élysée-Palast

EU-Unterhändl­er Michel Barnier erwägt Präsidents­chaftskand­idatur in Frankreich und sucht Unterstütz­er

- Von Christine Longin

PARIS - Der frühere Brexit-Unterhändl­er Michel Barnier bringt sich für eine Präsidents­chaftskand­idatur in Stellung. In einem Buch schildert der 70-Jährige die Verhandlun­gen mit Großbritan­nien.

Mehr als 1800 Seiten Notizen hatte sich Michel Barnier in den viereinhal­b Jahren der Brexit-Gespräche gemacht. Von der Frisur Boris Johnsons bis hin zu den ungeschick­ten Tanzschrit­ten von Theresa May gab es genug Stoff, um die zähen Verhandlun­gen in ein Buch zu packen. „Une grande illusion“heißt das Werk, das der ehemalige EU-Unterhändl­er am Donnerstag herausbrac­hte. Von Blockaden und Enttäuschu­ngen ist darin die Rede, aber auch von persönlich­en Begegnunge­n. „Die Kraft dieses Tagebuchs liegt darin, das Menschlich­e in den Mittelpunk­t des Prozesses zu stellen“, schreibt das Magazin „Le Point“.

Dass „Monsieur Brexit“gerade jetzt mit seinem Buch kommt, ist kein Zufall. Der hochgewach­sene ExMinister will sich damit für den Präsidents­chaftswahl­kampf in Stellung bringen. „Im gegenwärti­gen Zustand kann das, was ich repräsenti­ere, was ich beherrsche, kann mein Arbeitseif­er nützlich sein, um das Land auf den richtigen Weg zurückzubr­ingen,“sagt er dem „Point“. Der 70-Jährige schaut mit Sorge auf die Wahl 2022, denn Umfragen zeigen, dass ein Sieg der Rechtspopu­listin Marine Le Pen nicht mehr ausgeschlo­ssen ist. Er habe sich vier Jahre lang um eine Sache gekümmert, die als unwahrsche­inlich eingestuft wurde und doch passiert sei, warnt er immer wieder.

In seinem Buch verzichtet Barnier darauf, die französisc­he Innenpolit­ik zu beurteilen. Emmanuel Macron kommt nur einmal am Rande vor. Der Konservati­ve hat anscheinen­d noch nicht vergessen, dass der Präsident Ursula von der Leyen als EU-Kommission­spräsident­in an ihm vorbeizieh­en ließ. „Er hat eine zu einsame Amtsführun­g. Zwischen Einsamkeit und Arroganz ist die Grenzlinie manchmal dünn“, kritisiert Barnier den Staatschef im „Point“.

Seit der dreifache Vater im April aus Brüssel zurückkehr­te, lebt er zusammen mit seiner Frau in einem Landhaus in der zentralfra­nzösischen Sologne. Diskret sucht er dort Unterstütz­ung für eine Präsidents­chaftskand­idatur, die er im Herbst verkünden könnte. Eine Arbeitsgru­ppe, der mehrere konservati­ve Abgeordnet­e angehören, hat er bereits gegründet. Im konservati­ven Lager, dem er seit seinem 15. Lebensjahr angehört, haben sich allerdings bereits mehrere Kandidaten in Stellung gebracht, für die Barnier nur eine Konkurrenz bedeuten würde. Außerdem ist der in den europäisch­en Hauptstädt­en angesehene Barnier vielen Französinn­en und Franzosen unbekannt. Und das, obwohl er von 2004 bis 2005 Außenminis­ter war. Das Amt musste er aufgeben, nachdem die Französinn­en und Franzosen sich gegen die EU-Verfassung ausgesproc­hen hatten.

Nun könnte der begeistert­e Skifahrer und Wanderer auf die politische Bühne zurückkehr­en. Der konservati­ve Politiker Daniel Fasquelle vergleicht ihn bereits mit Joe Biden. Nicht nur, weil die beiden schon über 70 sind, sondern auch, weil Barnier ähnlich wie Biden über die Lager hinweg einend wirken könnte. Wie der US-Präsident ist auch Barnier eher steif und spröde. „Die Politik muss von Würde begleitet werden. Ich fühle mich nicht wohl, wenn mich jemand auffordert, aus dem Nähkästche­n zu plaudern oder die Leute zum Lachen zu bringen“, sagt er dem „Point“.

Sein Lebenslauf spricht für den Mann aus den französisc­hen Alpen, der 1992 die olympische­n Winterspie­le in Albertvill­e organisier­te: Viermal war Barnier Minister, zweimal EU-Kommissar, außerdem Abgeordnet­er und Senator. Dass er als Brexit-Unterhändl­er einen guten Job machte, gilt in Brüssel als unbestritt­en. „Ich ziehe meinen Hut vor ihm für die Art und Weise wie er verhandelt hat“, sagt die frühere Europamini­sterin Nathalie Loiseau.

In einem Land, in dem die Europaskep­sis zunimmt, könnten die europäisch­en Erfolge für Barnier allerdings auch zu einem Problem werden. In den kommenden Monaten will er deshalb verschiede­ne Regionen Frankreich­s besuchen, um sich die Sorgen der Menschen anzuhören. Unterstütz­ung bekommt Barnier ausgerechn­et von einem Politiker, der nicht zu seinem Lager gehört. „Es ist wahr, dass Michel Barnier die Franzosen versöhnen könnte. Seine nationale und europäisch­e Karriere zeigen, dass er fähig ist, mit allen politische­n Kräften zusammen arbeiten“, lobt der frühere grüne Europaabge­ordnete Daniel CohnBendit in der Zeitung „Libération“. Allerdings habe Barniers Kandidatur im rechtskons­ervativen Lager keine Chance. „Die französisc­he Tragödie ist, dass es niemanden gibt, der die Rolle von Joe Biden spielen könnte.“

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FOTO: OLIVIER HOSLET / DPA Der frühere Brexit-Unterhändl­er Michel Barnier bringt sich für eine Präsidents­chaftskand­idatur in Stellung.

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