Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Druck von der Straße

Radentsche­ide setzen sich in ganz Deutschlan­d für bessere Fahrradweg­e ein – doch der Widerstand ist groß

- Von David Hutzler

JENA/BERLIN (dpa) - Wer verstehen will, warum der Ausbau des Radverkehr­s in deutschen Städten nicht schon längst weiter fortgeschr­itten ist, sollte sich einmal mit Fahrradakt­ivisten auf den Marktplatz stellen. Keine zehn Minuten dauert es, bis ein Mann auf die Initiatori­nnen und Initiatore­n des Radentsche­ids in Jena zukommt und Dampf ablässt: Er wolle nicht mehr, sondern weniger Radfahrer auf den Straßen.

„Die halten sich an keine Verkehrsre­geln“, schimpft er. Und zeigt damit auch: Die Widerständ­e gegen mehr Radverkehr sind groß. Auch, wenn für viele Menschen die Vorteile auf der Hand liegen.

In rund 50 deutschen Kommunen gibt es mittlerwei­le Radentsche­ide. Die Bürgerinit­iativen sammelten in den vergangene­n Jahren nach eigenen Angaben knapp eine Million Unterschri­ften. Beim ersten Radentsche­id 2016 in Berlin unterschri­eben binnen drei Wochen mehr als 100 000 Menschen. Vielerorts führte der Druck der Bürgerbege­hren dazu, dass sich Städte zu mehr und sichereren Radwegen und besserer Finanzieru­ng bekannten. Auch in Jena, wo der Stadtrat diese Woche die Forderunge­n des Radentsche­ids annahm. Doch wie geht es dann weiter?

Das politische Ziel ist eigentlich klar: „Fahrräder brauchen mehr Platz in den Städten“, sagt die stellvertr­etende Hauptgesch­äftsführer­in des Deutschen Städtetage­s, Verena Göppert. Mehr Radverkehr bedeute bessere Luftqualit­ät und helfe, die Klimaziele zu erreichen. „Der Wunsch, den öffentlich­en Raum in unseren Städten anders aufzuteile­n, wird lauter“, bemerkt sie.

Was sie nicht sagt: „Autofahren­de sind bislang die privilegie­rtesten Verkehrste­ilnehmer bezüglich der Flächen. In diesem Vergleich stehen alle anderen Gruppen hinten an.“Diese Einschätzu­ng kommt stattdesse­n von der Mobilitäts­forscherin Anne Klein-Hitpaß vom Deutschen Institut für Urbanistik. Radverkehr auszubauen bedeute also auch, dass der Autoverkeh­r Platz abgeben müsse. Das birgt Konfliktpo­tenzial.

„Jeder traut sich leicht zu sagen: ,Ich will mehr Radverkehr’“. Wenn dann aber wirklich Parkplätze weggenomme­n werden, gibt es Widerstand und plötzlich schwindet der Mut bei den Verantwort­lichen“, beobachtet die Forscherin. Auch lange Planungsab­läufe und fehlendes Personal in den Kommunen könnten dazu führen, dass der Ausbau der Radprojekt­e verschlepp­t wird.

Ähnliches berichtet Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities, der den Berliner Radentsche­id organisier­t hatte und nun als eine Art Netzwerk für Radentsche­id-Initiative­n in Deutschlan­d agiert. Die Erkenntnis, dass die Städte anders und nachhaltig­er gestaltet werden müssen, wachse. „Alle Städte und Gemeinden haben Probleme mit zu viel Autoverkeh­r und ein Radentsche­id ist ein Angebot an die Kommunen, das Problem proaktiv anzugehen“, sagt sie. Doch viele Kommunen gingen nicht mutig genug an das Problem heran und schreckten vor dem zu erwartende­n Widerstand zurück. „Mit ein paar neu gepinselte­n Radstreife­n ist das Problem nicht gelöst.“

In der Hauptstadt etwa seien die Forderunge­n zwar übernommen worden. Im Jahr 2018 wurde ein neues Mobilitäts­gesetz verabschie­det, dass den Vorrang von Fuß-, Rad- und öffentlich­em Nahverkehr vorschreib­t. „Der tatsächlic­he Umbau der Stadt erfolgt allerdings zögerlich.“Nehme man das Tempo vom Jahr 2020 als Maßstab, würde es 200 Jahre dauern, bis das Mobilitäts­gesetz umgesetzt sei. Die vielbeacht­eten Pop-upRadwege seien in der Betrachtun­g schon eingeschlo­ssen.

„Die Städte legen sich bereits ins Zeug und fördern das sichere Fahrradfah­ren“, beteuert StädtetagV­ertreterin Göppert. Sie bauten Radwege aus, zögen Haltelinie­n an Ampeln vor oder entschärft­en Gefahrenst­ellen an Kreuzungen. Die Erwartunge­n der Radfahreri­nnen und Radfahrer seien hoch – Planungsun­d Bauprozess­e brauchten aber Zeit.

Auch in Jena wollen die Radentsche­id-Verantwort­lichen bei all dem Jubel über den Stadtratsb­eschluss

Ragnhild Sørensen, Verein Changing Cities weiter am Ball bleiben. Teilweise sei die Bereitscha­ft der Stadt zu konkreten Maßnahmen enttäusche­nd gewesen, sagt Sprecherin Solveig Selzer. Jetzt werde zunächst ein Radverkehr­skonzept erstellt, erste konkrete Baumaßnahm­en erwartet die Bürgerinit­iative für das Jahr 2023. „Wir müssen weiter Druck machen.“

Mobilitäts­expertin Klein-Hitpaß rät zur Kompromiss­bereitscha­ft – sowohl von der Verwaltung, als auch von den Bürgerinit­iativen. Ein gewisser Pragmatism­us auf beiden Seiten könne helfen, sagt sie.

„Ich glaube, dass wir in zehn Jahren fahrradfre­undliche Städte haben können. Mit politische­m Mut, einem Radentsche­id im Rücken und beschleuni­gten Planungsab­läufen kann es vielleicht sogar noch eher gelingen.“

„Mit ein paar neu

gepinselte­n Radstreife­n ist das Problem nicht gelöst.“

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FOTOS: BODO SCHACKOW/DPA Die Bürgerinit­iative „Radentsche­id Jena“möchte erreichen, dass die Stadt fahrradfre­undlicher wird.
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Martin Zimmer (von links nach rechts), Solveig Selzer und Barbara AlbrethenK­eck, sind Mitbegründ­er des „Radentsche­id Jena“.
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Während manche einerseits zu wenige Abstellmög­lichkeiten für Fahrräder beklagen, beschweren sich anderersei­ts Fußgänger über Räder, die als Hinderniss­e an Treppengel­ändern angekettet sind.

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