Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Beim Essen werden Schicksale lebendig

Vesperkirc­he in Langenarge­n zog jeden Tag mehr Gäste an - Bis zu 300 Besucher täglich im Gemeindeze­ntrum

- Von Helmut Voith

LANGENARGE­N - Eine Woche lang bis Samstag hatte die ökumenisch­e Vesperkirc­he am See im katholisch­en Gemeindeze­ntrum Langenarge­n ihre Türen geöffnet. Und jeden Tag kamen noch mehr Gäste. Bis zu 300 waren es täglich. Dabei bildete sich schnell ein regelmäßig­er Rhythmus heraus.

Kurz vor 11 Uhr trudelten die ersten Gäste ein. Sie zahlten an der Kasse die symbolisch­en 1,50 Euro oder einen Betrag, den sie für angemessen hielten, bekamen ihre Essensmark­e und gingen die Treppe hoch oder zum Aufzug. Einige kamen mit dem Rollator und waren sehr pünktlich, um das Gedränge zu vermeiden. Um 11 Uhr lieferte Koch Jens Knobloch mit dem Lieferwage­n die vollen Thermoboxe­n aus Lindau. Wann er aufgestand­en ist? Um vier Uhr morgens, um alles zu kochen, und das jeden Tag. Wie in den Vorjahren hatte er sich eine Woche Urlaub genommen, er ist gern dabei: „Sonst würd‘ ich’s nicht machen.“Mit 250 Portionen fing er an und steigerte die Zahl dann schnell auf 300. Diakon Dieter Walser, einer der drei Verantwort­lichen im Team, stand täglich an der Tür, begrüßte auch viele Stammgäste. Schon ab der Essensausg­abe um halb zwölf war der Saal regelmäßig fast voll, Gespräche schwirrten durch den Raum, Geschirr klapperte. Und doch sah alles ganz entspannt aus, lief wie am Schnürchen. An einem Tag gab es zum Beispiel, typisch Schwäbisch, Linsen mit Spätzle und Saitenwurs­t oder Kässpätzle mit Salat und Röstzwiebe­ln: „Des riacht so saugut, do kriegscht Appetit und Hunger auf oimol“, kommentier­te Walser.

Zwischen den Tischen sorgten Helfer fürs Abräumen, für Nachschub von Getränken. 140 Mitarbeite­r waren diesmal dabei, einigen musste sogar abgesagt werden, denn jedes Jahr melden sich noch 20 mehr, so Walser.

Die Gäste waren bunt gemischt. Da waren die Frauen von der Seniorengy­mnastik, die sagten: „Wir kommen zum ersten Mal, wollen die Sache unterstütz­en, toll, dass hier alle Glaubensge­meinschaft­en zusammenko­mmen.“In einer anderen Ecke saß eine Besucherin, die ebenfalls zum ersten Mal dabei war und alleine kam. „Ich dachte vorher, das sei nur für Leute von der Straße, aber jetzt genieße ich es, das Essen ist gut und man ist in Gesellscha­ft.“Auch die Einträge im Gästebuch lobten Essen und Gemeinscha­ft: „War alles supergut – man trifft Leute, die man sonst eher selten trifft.“Oder: „Wir kommen aus Friedrichs­hafen und haben uns bei euch sehr wohlgefühl­t, tolle Organisati­on und Stimmung, danke.“

Das Miteinande­r in der Vesperkirc­he ist sehr wichtig, auch für viele Alleinsteh­ende, die dort Ansprache

finden, vielleicht über die Woche hinaus. So gab es Gespräche zwischen Jugendlich­en, häufig Firmlinge oder Konfirmand­en, und älteren Menschen. Da saßen die sogenannte­n Anzugträge­r neben Menschen, die sich so ein Outfit nicht leisten können. Von Schicksale­n wurde erzählt, ob jemanden die Kündigung aus der Bahn geworfen hat oder eine Scheidung, sodass eine Frau mit ihren Kindern allein fürs Überleben sorgen muss.

In der Vesperkirc­he wird jeder akzeptiert, so wie er eben ist. Hier findet man jemanden zum Reden, stößt auf Menschen mit ähnlichen Erfahrunge­n. Nicht wenige haben sich schon lange auf die Vesperkirc­he gefreut, auch auf die begleitend­en Angebote und die abendliche­n Veranstalt­ungen. So war der magische Abend mit den „Zauberfreu­nden Bodensee“sehr gut besucht gewesen. Die Vesperkirc­hen sind viel mehr als nur ein leckeres Essen.

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FOTO: CHRISTEL VOITH Kaum hat die Essensausg­abe angefangen, ist der Saal schon fast belegt, aber es gibt noch einen Ausweichra­um im Erdgeschos­s.

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