Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Es braucht eine einzige weitere Schulart“
Bildungsforscherin Sliwka für Mix aus Real- und Gemeinschaftsschule neben Gymnasium
STUTTGART - Der Weg zurück zu G9 ist vorgezeichnet. Auf Druck einer Elterninitiative macht sich die grün-schwarze Landesregierung nun doch daran, die Schulstruktur Baden-Württembergs neu zu ordnen – obwohl sie das im Koalitionsvertrag ausgeschlossen hatte. Für die Heidelberger Bildungsforscherin Anne Sliwka, die auch Mitglied im Wissenschaftsrat von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) ist, darf eine Strukturreform nicht beim Gymnasium enden.
Was muss passieren, wenn das Land vom acht- aufs neunjährige Gymnasium umstellt?
Fast die Hälfte der Kinder entscheiden sich aktuell nach der Grundschule fürs Gymnasium. G9 wird dazu führen, dass Eltern, die bisher unsicher waren, eher zum Gymnasium tendieren. Das hat die Landesregierung erkannt, deshalb spricht Ministerpräsident Kretschmann von einer verbindlicheren Grundschulempfehlung. Aus wissenschaftlicher Sicht heißt das, dass die Schularten neben dem Gymnasium attraktiver und zeitgemäßer werden müssen.
Wie kann das gelingen?
Es braucht eine einzige weitere Schulart als echte zweite Säule neben dem Gymnasium. In der Wissenschaft nennen wir das „Neue Sekundarschulen“– wie die Stadtteilschulen in Hamburg. Eine Schule, die so attraktiv ist, dass Eltern ihre Kinder gerne dort anmelden und sie vor einer Abschulung vom Gymnasium schützen. Hier müssen alle Bildungswege möglich sein, die Kinder sollten nach ihren Fähigkeiten in Mathe etwa in einer anderen Gruppe lernen dürfen als in Deutsch und stärker nach ihren Bedürfnissen gefördert werden – etwa durch multiprofessionelle Teams, mehr Sozialarbeiter und pädagogische Kräfte. Diese Schulart kann zur Ausbildung führen, oder auch zum Abitur, indem die beruflichen Gymnasien als Oberstufe integriert werden. Wichtig ist, dass es Scharnierstellen gibt, an denen die Kinder noch mal neu entscheiden, ob das Gymnasium oder die zweite Schulart die richtige für sie ist – nicht nur nach der vierten Klasse, sondern auch nach der sechsten und nach der zehnten.
Eine solche zweite Säule wollte die damals grün-rote Koalition mit der Gemeinschaftsschule 2012 schaffen. Haupt- und gerade Realschulen haben sich erfolgreich dagegen gewehrt. Warum sollte das jetzt gelingen?
Beide Schularten sind nicht ideal. Die Gemeinschaftsschule folgt einer kindorientierten Pädagogik. Allerdings funktioniert das individualisierte Lernen nicht so gut. Es hat sich gezeigt, dass in Deutsch und Mathematik eine Instruktion durch die Lehrkräfte mit begleiteten Übungsphasen besser ist. Das tut zwar die Realschule, hier lernen aber alle Kinder unabhängig von ihrem Lernstand im Klassenverband. Es bräuchte viel mehr Diagnostik und Differenzierung, um die Kinder da abzuholen, wo sie jeweils stehen. Das ist wichtig für deren Selbstwertgefühl und ihre Freude am Lernen. Es wäre also gut, in einer neuen Schulart die Vorteile von Gemeinschafts- und Realschule zu bündeln und ihr einen neuen Namen zu geben.
Bis zur grün-roten Regierung entschied die Grundschulempfehlung über die weiterführende Schule, seitdem sind es die Familien. Wie kann eine Empfehlung verbindlicher werden?
Neben dem Elternwillen und der Empfehlung der Lehrkraft setze ich auf Diagnostik. Zusammengenommen erhöht das die Objektivität. Vielleicht könnten ja zwei dieser drei Kriterien dann entscheidend sein.
Die Landesregierung will Kinder mit Sprachdefiziten in der Kita verpflichtend fördern. Und sie will Grundschulen stärken, auch durch das StartchancenProgramm des Bundes. Von 20 Milliarden Euro über zehn Jahre sollen 1,34 in den Südwesten fließen. Wird jetzt alles gut?
Studien wie Pisa bescheinigen uns lange schon einen starken Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischem Hintergrund der Familie. Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit, gerade auch im Kontext unserer
Einwanderungsgesellschaft, wäre es sinnvoller gewesen, ein zusätzliches Jahr nicht für G9 einzuführen, sondern als verpflichtendes Vorschuljahr. Viele andere Länder wie die Schweiz, Großbritannien und Kanada tun das. Es gibt verbindliche Bildungspläne, um den Kindern Vorläuferfähigkeiten beizubringen, etwa in Mathematik. Aus meiner Sicht reicht der Fokus auf Sprachbildung, wie es Baden-Württemberg plant, nicht aus. Wir wissen, dass Sprachbildung nur wirksam ist, wenn sie mit einem Verständnis der Welt vermittelt wird. Nötig ist auch die Vermittlung von Selbstregulation, wodurch Kinder lernen, sich etwa auf ein Spiel zu konzentrieren und das emotionale Verhalten zu steuern.
In den Grundschulen braucht es von Anfang an eine durchgängige Diagnostik, um Lernrückstände der Kinder zu ermitteln und sie sofort zu fördern. Für Reformen und das Startchancen-Programm wird es zwar höchste Zeit. Schulen mit besonderen Herausforderungen sind viel zu lange allein gelassen worden. Es darf aber nicht bei zeitlich befristeten Programmen bleiben.
Regierungschef Kretschmann hat alle Fraktionschefs im Landtag – außer den der AfD – am 23. Februar zum Bildungsgipfel eingeladen. Werden diese sich auf Strukturreformen verständigen können?
Wir leben in einer herausfordernden Zeit, in der die demokratische Mitte in der Verantwortung ist, die Gesellschaft in die Zukunft zu führen. Ich gehe davon aus, dass das allen Parteien bewusst bist. Deshalb erhoffe ich mir, dass sich alle auf einen klaren Fahrplan bis 2030 mit Zwischenschritten einigen können. Wir sehen etwa, dass an zu kleinen Schulen bestimmte wirksame Formen der Bildung nicht umgesetzt werden können. Die Konkurrenz zwischen Schularten vor Ort kostet zu viel Energie, die wir für Schulentwicklung benötigen. Schulen sollten sich zunächst zu Verbünden zusammenschließen und sich daraus zur zweiten Säule entwickeln, die durch staatliche Anreize attraktiv ist. Es geht hier um die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in einer Zeit eines rapiden, auch technologischen Wandels und um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts.