Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Warten auf den Zug
Im Nordschwarzwald wird eine stillgelegte Bahnstrecke reaktiviert. So etwas ist politisch gewollt. Doch dieses Beispiel zeigt auch, welche überraschenden Hürden dabei auftauchen können.
CALW - Diese Geschichte dreht sich um eine einst stillgelegte Eisenbahnlinie, auf der eigentlich seit neun Jahren schon wieder Züge fahren sollten – dies aber nicht tun. Wie der Zufall so will, beginnt die Recherche aber einen kleinen Spaziergang abseits der im Nordschwarzwald verlaufenden Strecke: zur Einstimmung in einem Laden für gebrauchte Spielzeugeisenbahnen am Rand der romantischen Fachwerk-Altstadt von Calw. Der Inhaber meint so locker wie spöttisch, seine Mini-Züglein „würden wenigstens rollen, wenn auch nur auf Märklin-Gleisen“.
Zurück ins wirkliche Leben und zum großen Reaktivierungsprojekt. Auf rund 23 Kilometer erstreckt sich die besagte alte Trasse: Calw am westlichen Ende im Tal der Nagold, Weil der Stadt im Osten Richtung Stuttgart. Im Laden des Spielzeughändlers steht natürlich sofort die Frage im Raum, warum sich ihre Erweckung aus dem Dornröschenschlaf immer weiter hinausgezogen hat. „Die Fledermäuse sind schuld“, meint ein älterer Kunde im Laden. Ein weiterer älterer Herr beteiligt sich zwischen kleinen Waggons und Modellloks an der Diskussion. Er fügt an, es sei „die wahnsinnige Bürokratie“, die ein Fortkommen verhindere.
Tatsächlich haben beide recht. Wobei die Zahl der Hürden inzwischen fast schon unübersichtlich geworden ist. Viele sind überwunden. Andere nicht. Womöglich war es noch eine der leichteren Übungen, einen klingenden Namen für das Projekt zu finden: Hermann-Hesse-Bahn nach dem 1877 in Calw geborenen Dichter und Schriftsteller. Er beschrieb einst nebenbei die beschauliche Fahrt durch den Nordschwarzwald. Abgesehen von der Namensgebung sind aber sprichwörtlich dicke Bretter zu bohren.
Dabei existiert sogar Unterstützung der höchsten Obrigkeit: vonseiten der Landesregierung. Vor vier Jahren hat sie sogar eine „Reaktivierungsoffensive“gestartet. Die Wiederinbetriebnahme alter Strecken gilt als Herzensangelegenheit des Verkehrsministers Winfried Hermann. Der stramm grüne Politiker feiert sie seit Jahren als Beitrag für die sogenannte ökologische Verkehrswende: Sie könnten „dazu einen wichtigen Beitrag leisten“.
Aus heutiger Sicht wirkt es fast wie ein Treppenwitz, dass bei ihrer Stilllegung schon einmal eine Verkehrswende Pate stand: jene hin zur Straße, zu Bussen, Lkw und Pkw. Vor 40 oder 50 Jahren erschien deshalb mancher Schienenstrang abseits der Hauptlinien nur noch wie eine Erinnerung an die vergangene Dampf lokEpoche. Romantisch vielleicht, jedoch unlukrativ. Weg damit, entschieden folglich die damalige Deutsche Bundesbahn sowie diverse Verkehrsplaner.
Inzwischen lautet die Devise offenbar: Her damit. So werden im Südwesten Deutschlands für 21 verlassene Schienenstränge derzeit landesgeförderte Machbarkeitsstudien durchgeführt oder sind bereits beendet. Es sind Strecken, wo oft nur noch verrostete Schienen liegen oder gar keine mehr, wo Gebüsch die Trasse überwuchert hat. Hinzu kommen weitere Reaktivierungsideen, die aber bei der Prüfung zu Sinn oder Unsinn einer Wiedererweckung hinterherhinken.
Ein tatsächliches Umsetzen all der Ambitionen lässt sich gegenwärtig nur bei drei Projekten beobachten. Eines davon ist auf den Fildern bei Stuttgart. Es geht um knapp vier Kilometer, die dem SBahn-Netz der Landeshauptstadt hinzuaddiert werden sollen. Daneben existiert ein Sonderfall: die Wutachtalbahn im südöstlichen Schwarzwald. Auf ihr gibt es Ausf lugsverkehr und Schülertransport.
Vorgesehen ist aber, erneut einen regulären Taktbetrieb aufzunehmen.
Als ehrgeizigstes im Bau befindliche Unterfangen gilt jedoch die Calwer Hermann-Hesse-Bahn. Das Verkehrsministerium des Landes bezeichnet sie als „wichtiges Pioniervorhaben“. Vieles ist schon geschehen. Alte Gleise wurden ausgetauscht, Brücken ertüchtigt oder ersetzt. Auch ein 498 Meter langer Tunnel ist extra für die bessere Streckenführung neu entstanden. Am Rand von Calws Altstadt gleich an der Nagold kündet ein hoch aufragender Kran vom Bau der Haltestelle für den kommenden Zugverkehr.
Zig Baumaßnahmen sind nötig. Schließlich lassen sich nicht so einfach Loks und Waggons wieder auf Schienen setzen, auf denen seit 1988 nichts mehr gerollt ist. Ein Erdrutsch hatte damals ein Streckenstück beschädigt. Fans der Reaktivierung spotten: „Das ist der Deutschen Bahn richtig entgegengekommen.“Die Reparatur unterblieb. Der Bahnbetrieb wurde eingestellt.
Was als Infrastruktur vorhanden war, begann zu verrotten. Vieles ging noch aufs Jahr 1872 zurück, als die Verbindung CalwWeil der Stadt als Teil der königlichen Württembergischen Schwarzwaldbahn entstand. Wenn man so will, bekam die Natur durch die Stilllegung eine Chance, sich diese Trasse zurückzuholen. Eigentlich keine schlechte Sache. Doch daraus ist eine wesentliche Hürde für das Wiedererwecken entstanden.
Verantwortlich sind vor allem Fledermäuse. Als keine Züge mehr fuhren, zogen sie auf der Suche nach Winterquartieren massenhaft in zwei Tunnels des alten Streckenbestandes ein. Der baden-württembergische Landesverband des Ökobunds Nabu hat rund 1000 solcher Insektenfänger aus 13 Gattungen registriert.
Von dessen Pressesprecherin Claudia Wild heißt es: „Ein Verlust eines solch wichtigen Quartiers wie die Tunnel der Hermann-Hesse-Bahn könnten bestimmte Arten an den Rand des Aussterbens bringen.“Was wiederum gesetzlich relevant ist. Fledermäuse sind strengstens geschützt. 2016 klagte der Nabu vor dem Verwaltungsgericht Mannheim gegen den ersten Planfeststellungsbeschluss zur Streckenreaktivierung. Im selben Jahr wandte er sich ans Verwaltungsgericht Karlsruhe, um Rodungen an der Trasse zu stoppen.
Seinerzeit war klargeworden, dass es definitiv ernst mit der Reaktivierung wird. Erste vage Schritten lagen da schon 22 Jahre zurück. 1994 hatte der Landkreis Calw die ruhende Strecke gekauft, um eine Option für deren Wiedererweckung zu haben. Was folgte, waren Diskussionen über Ideen und das Aneinanderreihen von Studien. Zermürbend wie lange Zeit ergebnislos.
Nur langsam kristallisierte sich ein gangbarer Weg heraus: Der Landkreis Calw setzt als Eigentümer das Projekt als Zulaufstrecke zum Stuttgarter S-BahnNetz um. Worauf das Land 2014 die Zusage gab, die Hälfte der Reaktivierungskosten zu tragen, damals auf insgesamt 50 Millionen Euro angesetzt.
2015 liefen dann die Planfeststellungsund Plangenehmigungsanträge. Nach früheren Vorstellungen hätten in diesem Jahr eigentlich die ersten Züge fahren sollen. Nun wurde 2023 angepeilt. Auf dem Weg dahin konnte der kurz davor vom Calwer Landkreis gegründete Zweckverband Hermann-Hesse-Bahn wenigstens als Erfolg verkünden, dass ein erster Spatenstich erfolgt ist. Doch die Verzögerung durch Fledermäuse und weitere Öko-Umstände war schon im Gange. Zudem hatte sich empört die Gemeinde Renningen gemeldet, bei der die reaktivierte Strecke an Stuttgarts S-Bahn-Netz angeschlossen werden soll. Ihre Befürchtung: Nachteile für die eigenen Bürger wegen mehr Verkehr, Lärm und je nach Art der Antriebssysteme auch durch Abgase.
Alles zusammen ist fast schon ein Alptraum für die Reaktivierungsbefürworter. „Jede Blockade verzögert das Projekt um Jahre“, klagt Hans-Joachim Knupfer. Er gehört zur Initiative „Bürgeraktion Unsere Schwarzwaldbahn“. Ihr fast schon sehnsuchtsvoller Wunsch: endlich in brauchbarer Zeit auf der Schiene zwischen Stuttgart und Calw verkehren zu können. 60 Minuten Fahrzeit im 30-Minuten-Takt sieht das aktuelle Konzept vor.
Für den Fall, dass es einmal so weit ist, frohlockt bereits die Stadt Calw. Die direkte Verbindung nach Stuttgart sei natürlich für Pendler und Touristen super, lässt sie verlautbaren. Oberbürgermeister Florian Kling meint: „Das ist eine große Chance für uns.“
Immerhin konnten einige Bremsklötze einvernehmlich beseitigt werden – etwa die Widerstände der Gemeinde Renningen durch Kompromisse beim Zugbetrieb. Zwar gibt es bis auf Weiteres keine Elektrifizierung. Dafür sollen sollen Akku-Loks emissionsfrei fahren.
Auch für die Fledermäuse hat sich eine Lösung finden lassen. Für sie werden Teile der beiden betroffenen Tunnels mittels Trennwand abgesondert. Zudem erhalten sie Schlafstollen außerhalb des Bahnbereichs. Kostenpunkt: mehr als 18 Millionen Euro zusätzlich. Der Nabu zeigt sich zufrieden.
Alles gut? Nein, nur eingeschränkt. Wegen der Fledermäuse existiert nämlich in den beiden Tunnels noch ein anderes Problem: Es darf an ihnen nur außerhalb ihrer Winterruhe gearbeitet werden: von Mai bis September.
Bei einem anderen relevanten Tier redet noch die EU in Brüssel mit. Es handelt sich um den ebenso streng geschützten Steinkrebs, aufgefunden in einem Bahnentwässerungsgraben. Das Verfahren über sein Schicksal läuft seit sechs Jahren. Dann hat die Deutsche Bahn für Arbeiten zum Anschluss an das Stuttgarter S-BahnNetz nötige Sperrungen an diesem Knotenpunkt unterlassen. Wieder eine Verzögerung. Die Inbetriebnahme 2023 war nicht zu halten. 2024 fiel auch flach.
Zuletzt war nötiges Baumaterial nicht zeitig zu bekommen. Fast könnte man meinen, dass eine höhere Macht die Hermann-HesseBahn blockiert. Das Verkehrsministerium in Stuttgart meint dazu: „Die Dauer der Reaktivierung ist dem Umfang der Maßnahme und verschiedenen Parametern geschuldet.“Darunter fallen unter anderem die Fledermäuse. Aus dem Umkreis des Calwer Landratsamtes ist von „einem Jahrhundertprojekt“die Rede. Da müsse leider Gottes mit Unwägbarkeiten gerechnet werden.
Volkes Stimme im Laden für Spielzeugeisenbahnen beim Calwer Zentrum sieht dies mit mehr kritischem Abstand. Einer der schon am Anfang zitierten Kunden meint süffisant: „Es sind doch nur gut 20 Kilometer Strecke.“Tatsächlich war die alte Schwarzwaldbahn in ihrer gesamten historischen Länge von 50 Kilometern einst in sieben Jahren geplant und gebaut worden – noch ohne den Einf luss von Fledermäusen.
Immerhin scheint jetzt Licht am Ende des Tunnels zu sein. Der Zweckverband Hermann-HesseBahn geht davon aus, dass ab Mitte 2025 die ersten Züge fahren.