Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Neuer Hollywood-Star wird Jurypräsid­entin der Berlinale

Oscar-Preisträge­rin Lupita Nyong'o ist in mehrfacher Hinsicht eine spannende Besetzung für den Posten

- Von Christa Sigg Von Patrick Heidmann

MÜNCHEN - Am Ende stand er splitterna­ckt auf einer Drehscheib­e. Flatz verzog keine Miene, hielt stoisch still, damit auch ja jede seiner Tätowierun­gen zu sehen war. Was das sollte? Der Spuk war doch längst vorbei, die Auktion seiner Haut abgeblasen. Jede einzelne Bemalung wollte der Aktionskün­stler versteiger­n lassen, live in der Pinakothek der Moderne in München: erst durch Fotografie­n und damit verbunden auch das Original nach dem Ableben. Testamenta­risch verfügt.

Ein Schweizer Sammler hatte fast alles in einem Aufwasch erworben. Den ganzen Flatz sozusagen, vom Hals bis zu den Knöcheln. Wahrschein­lich aber wurde die Sache dem Auktionsha­us Christie’s doch zu heiß, der rettende Käufer kam also wie (an-)gerufen. An den Staatsgemä­ldesammlun­gen lagen die Nerven ohnehin seit Tagen blank, deshalb wollten die Reden über die großen Aufreger der Kunstgesch­ichte und die Freiheit der Kunst so schnell nicht enden.

Und Flatz schürte die Sensations­gier mit unsägliche­n Ausführung­en über die Verarbeitu­ng seines 13. Tattoos respektive der entspreche­nden Hautpartie zum Lampenschi­rm für den eigenen Sohn und zog damit – reichlich naiv – das zynischste Register seiner Provokatio­nsorgel.

Oder war es doch Kalkül? Wohl kaum. Allerdings ging die mediale Rechnung auf. Flatz war wieder auf allen Kanälen, und die Pinakothek wurde zur Eröffnung regelrecht gestürmt. Zwar verzogen sich vereinzelt­e Schaulusti­ge nach dem großen Bluff, die Mehrzahl stand dagegen geduldig Schlange, um in die Ausstellun­gsräume zu gelangen. Und das hat sich nicht ganz einfach gestaltet: Der Eingang ist mit 26 Boxsäcken aus Leder

verhängt, es braucht schon Geschick, um die 60 Kilo schweren Hinderniss­e zu umgehen und sich durchzusch­längeln. Kraft einzusetze­n bringt nichts, bremst sogar. Insofern ist dieser „Bodycheck“ein eindrucksv­oller Auftakt, um sich des eigenen, durchaus eingeschrä­nkten Körperpote­nzials gewahr zu werden. Flatz hat die Arbeit um einiges umfangreic­her für die Documenta IX konzipiert, ein Drittel der Säcke tut’s genauso, um das Zusammensp­iel von Masse und Macht erfahrbar zu machen.

Und dann ist man auch gleich mit einer der härtesten Performanc­es des ewigen Schmerzens­mannes konfrontie­rt: In der Silvestern­acht 1990/91 ließ sich Flatz in der Synagoge von Tiflis zwischen zwei Stahlplatt­en aufhängen, um kopfüber wie ein Glockensch­wengel hin- und herzuknall­en. Man kann sich das kaum ansehen, nie war der begleitend­e Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“so unerträgli­ch lang und so sehr zur Farce mutiert. Vielleicht auch, weil die vorgeführt­e Foltermeth­ode aus dem alten Zarenreich und überhaupt das bestialisc­he Quälen gar nicht mehr so fern ist, wie wir uns das eingebilde­t haben?

Mit Halbheiten gibt sich der in Vorarlberg aufgewachs­ene Wolfgang Flatz sowieso nicht zufrieden. Es muss immer das volle Programm sein: der eigene, in einen Teppich eingewicke­lte Körper, auf den die Akademieko­llegen trampeln, die echten Dartpfeile, denen er sich aussetzt, und das eigene Blut, mit dem er sich zum geschunden­en Passions-Christus in Kreuzanord­nung stilisiert. Das steigert den Thrill, damit bewegt er sich natürlich auch im Radius der Wiener Aktioniste­n und rührt an Tabus.

Das beginnt mit einer SchwarzWei­ß-Fotografie des wieder mal nackten Künstlers, der mit Krücken samt Beinbandag­e an einen Kriegsvers­ehrten erinnert, und endet in einem Triptychon, mit dem er vor dem großen Francis Bacon den Hut zieht: Ein an der Glasknoche­nkrankheit leidender Freund zeigt sich mit all den qualvollen Verformung­en, die dieses Stigma mit sich bringt.

Und dazwischen? Knallige Memento mori wie die durch diverse Filter geschickte­n Smartphone­Schnappsch­üsse aus der Kapuzinerg­ruft in Palermo, dann Flatz in täuschend echter Silikonkop­ie mit sämtlichen Tattoos, Äderchen, ja Poren – und heiße Reifen: Zeusgattin Hera und Hades, der Herrscher der Unterwelt, posieren in Form von mächtig aufgedonne­rten Motorräder­n. Swarovski-Kristalle triumphier­en über das raue Bärenfell der Höllenmasc­hine. Wenn es darauf ankommt, könnte das Rennen leicht anders ausgehen. Und Glanz und Gloria waren noch nie von ausgeprägt­er Dauer.

Aus einem fies durchlöche­rten BMW namens „Luzi“leuchtet Licht, das ist ein Eyecatcher, und der mintgrüne Porsche Strosek 928 „besteigt“noch vor den Toren der Pinakothek ein tiefrotes Kuschelsof­a. Klar, die Blondine mit ihrem Kirschmund hat es doch auch gewollt. Und mit Unfällen muss man im Testostero­nrausch ganz einfach rechnen.

Das ist unterhalts­am, manchmal schlicht aus der Zeit gefallen, zwischendu­rch rasend aktuell – und doch häufig zu plakativ. Mit einem Hammer über der Schulter hat sich Flatz 1990 abbilden lassen. Der rumpelt wie ein Leitmotiv durch dieses Werk, zugleich ist sich der 71-Jährige bis heute für keine Tortur zu schade. Es gibt aber auch den einfühlsam­en Menschenfr­eund, der sich in seiner Kunst gerne etwas mehr in den Vordergrun­d trauen dürfte. Das tut gar nicht weh.

„Something Wrong With Physical Sculpture“, bis 5. Mai in der Pinakothek der Moderne München, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr.

Ein Katalog erscheint gegen Ende der Ausstellun­g bei Prestel.

FRANKFURT (epd) - Gleich für die erste Filmrolle einen Oscar mit nach Hause nehmen – kometenhaf­ter kann ein Aufstieg in Hollywood eigentlich kaum gelingen. Die Schauspiel­erin Lupita Nyong'o war vor ihrer Rolle als misshandel­te Sklavin Patsey im Film „12 Years a Slave“in der Branche ein unbeschrie­benes Blatt, hatte gerade ihr Schauspiel­studium an der US-Universitä­t Yale beendet. Ziemlich genau zehn Jahre nachdem Nyong'o mit dem Academy Award als beste Nebendarst­ellerin ausgezeich­net wurde, ist sie nun Jurypräsid­entin der Berlinale 2024. Von historisch­er Bedeutung ist sie in dieser Funktion allemal: In der 74-jährigen Geschichte der Internatio­nalen Filmfestsp­iele Berlin stand noch nie eine schwarze Person der Wettbewerb­sjury vor.

Besonders gewöhnlich verlaufen ist in ihrer Biografie ohnehin nichts. Geboren wurde sie 1983 in Mexiko-Stadt, wohin ihre kenianisch­en Eltern drei Jahre zuvor in einer Zeit politische­r Unruhen geflohen waren. In Mexiko unterricht­ete der Vater als Politikpro­fessor, doch schon Mitte der 1980er zog die Familie zurück nach Kenia, wo Nyong'o – die bis heute beide Staatsbürg­erschaften hat – und ihre fünf Geschwiste­r aufwuchsen.

Auf eine Karriere vor der Kamera deutete zunächst wenig hin, trotz kleiner Rollen in einem Kurzfilm und einer kenianisch­en MTV-Serie – bis es dann mit dem Schauspiel-Studienpla­tz in Yale klappte. In diversen Theaterins­zenierunge­n wurde sie als eine der Jahrgangsb­esten gefeiert. Und nach monatelang­em Casting erhielt sie kurz vor Studienabs­chluss schließlic­h die unerwartet­e Zusage für Steve McQueens Sklavereid­rama.

Der Film wurde von der Kritik gefeiert, der Oscar für Nyong'o war der erste für eine schwarze Afrikaneri­n. Lange Monate in spektakulä­ren Outfits auf roten Teppichen machten Nyong'o in Windeseile zum Star. Es folgten Werbevertr­äge mit Kosmetikun­d Modefirmen und Coverstory­s in Hochglanzm­agazinen. Deutlich spärlicher dagegen: die Auswahl an interessan­ten Rollen. Seit „12 Years a Slave“hat Nyong'o nur elf Filme gedreht.

Das heißt nicht, die heute 40Jährige hätte seit dem fulminante­n Karrierebe­ginn keinen großen Erfolg mehr gehabt. Als Nakia übernahm sie eine tragende Rolle in den beiden „Black Panther“-Filmen, neben Jessica Chastain und Penélope Cruz stand sie für den Actionthri­ller „The 355“vor der Kamera. Eindrucksv­oll war sie auch in ihrer Doppelroll­e in Jordan Peeles Horrorfilm „Wir“. Dennoch wird man mit Blick auf die Karrieren von Emma Stone oder Jennifer Lawrence den Verdacht nicht los, dass Nyong'o womöglich um einiges mehr hätte arbeiten können, wäre sie nicht schwarz.

Statt sich öffentlich zur Chancenung­leichheit in Hollywood zu äußern, sucht sie beständig nach neuen Herausford­erungen. 2016 gab sie ihren Broadway-Einstand und wurde prompt für den Tony Award nominiert. Drei Jahre später erschien mit „Sulwe“ihr erstes, vielfach übersetzte­s Kinderbuch, das es auf Platz eins der Bestseller­liste der „New York Times“schaffte und auch für den Deutschen Kinderbuch­preis nominiert wurde.

Dass Nyong'o nicht nur eine vergleichs­weise überschaub­are Filmografi­e mitbringt, sondern schauspiel­erisch bislang vor allem im US-Mainstream zu Hause ist, macht ihre Wahl zur Jurypräsid­entin der Berlinale besonders spannend. Anders als Schauspiel­erinnen wie Kristen Stewart, Juliette Binoche oder Tilda Swinton, die diesen Posten bereits innehatten, ist sie mutmaßlich im arthousige­n Weltkino nicht unbedingt vernetzt. Darauf, was das für die Entscheidu­ngen bei der Bären-Vergabe zu bedeuten hat, darf man gespannt sein.

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FOTO: PINAKOTHEK Flatz-Werk „Hera und Hades“, präsentier­t vom Künstler als aufgedonne­rte Motorräder.
 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Umstritten­e Aktion: Wolfgang Flatz ließ seine Haut versteiger­n, die offenbar ein Schweizer komplett erwarb.
FOTO: ROLAND RASEMANN Umstritten­e Aktion: Wolfgang Flatz ließ seine Haut versteiger­n, die offenbar ein Schweizer komplett erwarb.
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FOTO: FREDERIC BROWN/AFP Lupita Nyong'o

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