Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Neuer Hollywood-Star wird Jurypräsidentin der Berlinale
Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong'o ist in mehrfacher Hinsicht eine spannende Besetzung für den Posten
MÜNCHEN - Am Ende stand er splitternackt auf einer Drehscheibe. Flatz verzog keine Miene, hielt stoisch still, damit auch ja jede seiner Tätowierungen zu sehen war. Was das sollte? Der Spuk war doch längst vorbei, die Auktion seiner Haut abgeblasen. Jede einzelne Bemalung wollte der Aktionskünstler versteigern lassen, live in der Pinakothek der Moderne in München: erst durch Fotografien und damit verbunden auch das Original nach dem Ableben. Testamentarisch verfügt.
Ein Schweizer Sammler hatte fast alles in einem Aufwasch erworben. Den ganzen Flatz sozusagen, vom Hals bis zu den Knöcheln. Wahrscheinlich aber wurde die Sache dem Auktionshaus Christie’s doch zu heiß, der rettende Käufer kam also wie (an-)gerufen. An den Staatsgemäldesammlungen lagen die Nerven ohnehin seit Tagen blank, deshalb wollten die Reden über die großen Aufreger der Kunstgeschichte und die Freiheit der Kunst so schnell nicht enden.
Und Flatz schürte die Sensationsgier mit unsäglichen Ausführungen über die Verarbeitung seines 13. Tattoos respektive der entsprechenden Hautpartie zum Lampenschirm für den eigenen Sohn und zog damit – reichlich naiv – das zynischste Register seiner Provokationsorgel.
Oder war es doch Kalkül? Wohl kaum. Allerdings ging die mediale Rechnung auf. Flatz war wieder auf allen Kanälen, und die Pinakothek wurde zur Eröffnung regelrecht gestürmt. Zwar verzogen sich vereinzelte Schaulustige nach dem großen Bluff, die Mehrzahl stand dagegen geduldig Schlange, um in die Ausstellungsräume zu gelangen. Und das hat sich nicht ganz einfach gestaltet: Der Eingang ist mit 26 Boxsäcken aus Leder
verhängt, es braucht schon Geschick, um die 60 Kilo schweren Hindernisse zu umgehen und sich durchzuschlängeln. Kraft einzusetzen bringt nichts, bremst sogar. Insofern ist dieser „Bodycheck“ein eindrucksvoller Auftakt, um sich des eigenen, durchaus eingeschränkten Körperpotenzials gewahr zu werden. Flatz hat die Arbeit um einiges umfangreicher für die Documenta IX konzipiert, ein Drittel der Säcke tut’s genauso, um das Zusammenspiel von Masse und Macht erfahrbar zu machen.
Und dann ist man auch gleich mit einer der härtesten Performances des ewigen Schmerzensmannes konfrontiert: In der Silvesternacht 1990/91 ließ sich Flatz in der Synagoge von Tiflis zwischen zwei Stahlplatten aufhängen, um kopfüber wie ein Glockenschwengel hin- und herzuknallen. Man kann sich das kaum ansehen, nie war der begleitende Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“so unerträglich lang und so sehr zur Farce mutiert. Vielleicht auch, weil die vorgeführte Foltermethode aus dem alten Zarenreich und überhaupt das bestialische Quälen gar nicht mehr so fern ist, wie wir uns das eingebildet haben?
Mit Halbheiten gibt sich der in Vorarlberg aufgewachsene Wolfgang Flatz sowieso nicht zufrieden. Es muss immer das volle Programm sein: der eigene, in einen Teppich eingewickelte Körper, auf den die Akademiekollegen trampeln, die echten Dartpfeile, denen er sich aussetzt, und das eigene Blut, mit dem er sich zum geschundenen Passions-Christus in Kreuzanordnung stilisiert. Das steigert den Thrill, damit bewegt er sich natürlich auch im Radius der Wiener Aktionisten und rührt an Tabus.
Das beginnt mit einer SchwarzWeiß-Fotografie des wieder mal nackten Künstlers, der mit Krücken samt Beinbandage an einen Kriegsversehrten erinnert, und endet in einem Triptychon, mit dem er vor dem großen Francis Bacon den Hut zieht: Ein an der Glasknochenkrankheit leidender Freund zeigt sich mit all den qualvollen Verformungen, die dieses Stigma mit sich bringt.
Und dazwischen? Knallige Memento mori wie die durch diverse Filter geschickten SmartphoneSchnappschüsse aus der Kapuzinergruft in Palermo, dann Flatz in täuschend echter Silikonkopie mit sämtlichen Tattoos, Äderchen, ja Poren – und heiße Reifen: Zeusgattin Hera und Hades, der Herrscher der Unterwelt, posieren in Form von mächtig aufgedonnerten Motorrädern. Swarovski-Kristalle triumphieren über das raue Bärenfell der Höllenmaschine. Wenn es darauf ankommt, könnte das Rennen leicht anders ausgehen. Und Glanz und Gloria waren noch nie von ausgeprägter Dauer.
Aus einem fies durchlöcherten BMW namens „Luzi“leuchtet Licht, das ist ein Eyecatcher, und der mintgrüne Porsche Strosek 928 „besteigt“noch vor den Toren der Pinakothek ein tiefrotes Kuschelsofa. Klar, die Blondine mit ihrem Kirschmund hat es doch auch gewollt. Und mit Unfällen muss man im Testosteronrausch ganz einfach rechnen.
Das ist unterhaltsam, manchmal schlicht aus der Zeit gefallen, zwischendurch rasend aktuell – und doch häufig zu plakativ. Mit einem Hammer über der Schulter hat sich Flatz 1990 abbilden lassen. Der rumpelt wie ein Leitmotiv durch dieses Werk, zugleich ist sich der 71-Jährige bis heute für keine Tortur zu schade. Es gibt aber auch den einfühlsamen Menschenfreund, der sich in seiner Kunst gerne etwas mehr in den Vordergrund trauen dürfte. Das tut gar nicht weh.
„Something Wrong With Physical Sculpture“, bis 5. Mai in der Pinakothek der Moderne München, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr.
Ein Katalog erscheint gegen Ende der Ausstellung bei Prestel.
FRANKFURT (epd) - Gleich für die erste Filmrolle einen Oscar mit nach Hause nehmen – kometenhafter kann ein Aufstieg in Hollywood eigentlich kaum gelingen. Die Schauspielerin Lupita Nyong'o war vor ihrer Rolle als misshandelte Sklavin Patsey im Film „12 Years a Slave“in der Branche ein unbeschriebenes Blatt, hatte gerade ihr Schauspielstudium an der US-Universität Yale beendet. Ziemlich genau zehn Jahre nachdem Nyong'o mit dem Academy Award als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde, ist sie nun Jurypräsidentin der Berlinale 2024. Von historischer Bedeutung ist sie in dieser Funktion allemal: In der 74-jährigen Geschichte der Internationalen Filmfestspiele Berlin stand noch nie eine schwarze Person der Wettbewerbsjury vor.
Besonders gewöhnlich verlaufen ist in ihrer Biografie ohnehin nichts. Geboren wurde sie 1983 in Mexiko-Stadt, wohin ihre kenianischen Eltern drei Jahre zuvor in einer Zeit politischer Unruhen geflohen waren. In Mexiko unterrichtete der Vater als Politikprofessor, doch schon Mitte der 1980er zog die Familie zurück nach Kenia, wo Nyong'o – die bis heute beide Staatsbürgerschaften hat – und ihre fünf Geschwister aufwuchsen.
Auf eine Karriere vor der Kamera deutete zunächst wenig hin, trotz kleiner Rollen in einem Kurzfilm und einer kenianischen MTV-Serie – bis es dann mit dem Schauspiel-Studienplatz in Yale klappte. In diversen Theaterinszenierungen wurde sie als eine der Jahrgangsbesten gefeiert. Und nach monatelangem Casting erhielt sie kurz vor Studienabschluss schließlich die unerwartete Zusage für Steve McQueens Sklavereidrama.
Der Film wurde von der Kritik gefeiert, der Oscar für Nyong'o war der erste für eine schwarze Afrikanerin. Lange Monate in spektakulären Outfits auf roten Teppichen machten Nyong'o in Windeseile zum Star. Es folgten Werbeverträge mit Kosmetikund Modefirmen und Coverstorys in Hochglanzmagazinen. Deutlich spärlicher dagegen: die Auswahl an interessanten Rollen. Seit „12 Years a Slave“hat Nyong'o nur elf Filme gedreht.
Das heißt nicht, die heute 40Jährige hätte seit dem fulminanten Karrierebeginn keinen großen Erfolg mehr gehabt. Als Nakia übernahm sie eine tragende Rolle in den beiden „Black Panther“-Filmen, neben Jessica Chastain und Penélope Cruz stand sie für den Actionthriller „The 355“vor der Kamera. Eindrucksvoll war sie auch in ihrer Doppelrolle in Jordan Peeles Horrorfilm „Wir“. Dennoch wird man mit Blick auf die Karrieren von Emma Stone oder Jennifer Lawrence den Verdacht nicht los, dass Nyong'o womöglich um einiges mehr hätte arbeiten können, wäre sie nicht schwarz.
Statt sich öffentlich zur Chancenungleichheit in Hollywood zu äußern, sucht sie beständig nach neuen Herausforderungen. 2016 gab sie ihren Broadway-Einstand und wurde prompt für den Tony Award nominiert. Drei Jahre später erschien mit „Sulwe“ihr erstes, vielfach übersetztes Kinderbuch, das es auf Platz eins der Bestsellerliste der „New York Times“schaffte und auch für den Deutschen Kinderbuchpreis nominiert wurde.
Dass Nyong'o nicht nur eine vergleichsweise überschaubare Filmografie mitbringt, sondern schauspielerisch bislang vor allem im US-Mainstream zu Hause ist, macht ihre Wahl zur Jurypräsidentin der Berlinale besonders spannend. Anders als Schauspielerinnen wie Kristen Stewart, Juliette Binoche oder Tilda Swinton, die diesen Posten bereits innehatten, ist sie mutmaßlich im arthousigen Weltkino nicht unbedingt vernetzt. Darauf, was das für die Entscheidungen bei der Bären-Vergabe zu bedeuten hat, darf man gespannt sein.