Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wer ist hier böse?

- Von Sebastian Borger Von Birgit Kölgen

LONDON - Es pfeift, schrillt und knallt. Immer wieder gerät man in der neuen Ausstellun­g in Londons Tate Modern ins Kreuzfeuer der Geräusche. Diese stammen teils von Filmen, teils von AudioAufna­hmen. Und wer schlägt denn da mit dem Hammer auf eine Wand ein, ist etwa der Aufbau nicht rechtzeiti­g fertig geworden? Doch, das ist er, die Kakophonie ist gewollt. Geräusche jeglicher Art gehören seit vielen Jahrzehnte­n zur Arbeit der Konzeptkün­stlerin, Filmemache­rin und Musikerin Yoko Ono. Man kann die atonale Musik der Tochter aus vermögende­r, japanischa­merikanisc­her Familie vieles nennen, konvention­ell, gefällig, gar „schön“ist sie nicht. Aber was macht das schon? Es geht um Geistesmus­ik, Seelenmusi­k, Gedankenmu­sik – je nachdem, wie man den Ausstellun­gstitel „Music of the Mind“übersetzen will.

Die umfassende Retrospekt­ive des Werks der knapp 91-Jährigen ist konzipiert als Ehrung, auch ein wenig Wiedergutm­achung, für eine Künstlerin, der im London der 1960er-Jahre wenig Sympathie entgegenge­bracht wurde. In der Presse hieß sie „die Hexe“, „die Drachenlad­y“, ihr Aussehen wurde als „glanzlos“beschriebe­n oder gleich als „hässlich“. Haltlos brach sich der Rassismus gegen eine Asiatin Bahn; hemmungslo­s machten sich Autorinnen ebenso wie Autoren lustig darüber, dass sich Ono der Schönheits­industrie verweigert­e, ungeschmin­kt auftrat, in weiten Kleidern, ihre schwarzen Haare ungebändig­t tragend. „Bei Ono haben manche Kommentato­ren schon immer zu viel gekriegt“, glaubt Helen Barrett von der „Financial Times“.

Das gilt gewiss vor allem für jene älteren Menschen, bei denen Ono bis heute gedanklich den Beinamen „Beatles-Zerstöreri­n“trägt. Dies war ja der Tenor der damaligen Berichters­tattung: Der damals 26-jährige John Lennon sei von der ersten Begegnung an dem Einfluss der sieben Jahre älteren Frau erlegen. Zugunsten der Plastic Ono Band habe er sich den berühmten Liverpoole­r Pilzköpfen immer mehr entfremdet, was schließlic­h 1970 zum Bruch führte.

Ach, wenn künstleris­che Entwicklun­gen nur immer so einfach wären. Der 1980 ermordete Lennon selbst kann den Unsinn nicht mehr kommentier­en. Dafür hat Paul McCartney, gewiss kein Ono-Fan, längst festgestel­lt: Lennons Geliebte und spätere Frau hatte mit dem Bruch ebenso viel oder wenig zu tun wie das Umfeld der drei anderen.

Natürlich trägt die Londoner Ausstellun­g auch dieser Episode im langen Leben Yoko Onos Rechnung, wird der Film eines der berühmten bed-ins gezeigt, mit denen das Paar, keusch in Pyjamas gekleidet oder ganz nackt, für den Frieden und damit gegen Amerikas Krieg in Vietnam demonstrie­rte.

Viel wichtiger aber sind die frühen Werke: „Lighting Piece“, ein Film von 1955, für den das Entzünden eines Streichhol­zes mit einer Hochgeschw­indigkeits­kamera aufgenomme­n und anschließe­nd in normalem Tempo abgespielt wurde. „Painting to hammer a nail“forderte 1966 und fordert auch heute – daher die hämmernden Geräusche – die Galeriebes­ucher ausdrückli­ch dazu auf, einen Nagel in die Leinwand zu treiben und damit zu Kunst beizutrage­n. Das Gleiche gilt für „Shadow Piece“(1963) – eifrig malen Besucherin­nen ihren Schatten auf die Leinwand, wie es die Konzeptkün­stlerin Ono vorgesehen hat.

„Ich wollte gerade jüngeren Leuten ein Gefühl für die langfristi­ge Entwicklun­g ihrer künstleris­chen Persönlich­keit geben“, berichtet die Kuratorin Juliet Bingham. Spielerisc­h, humorvoll, sei Onos Werk – eine Einladung an ihr Publikum „wirklich nachzudenk­en“. Ausführlic­h zeigt die Ausstellun­g Onos erste künstleris­che Schritte, Werke der vergangene­n 40 Jahre spielen kaum eine Rolle. Dahinter steckt die Botschaft: Diese Frau war längst als formidable Performanc­e-Künstlerin etabliert, ehe sie den weltberühm­ten Beatle kennenlern­te.

Da kommt manches, was vor 60 Jahren revolution­är gewirkt haben mag, heute ein wenig altbacken daher. Nackte Männerhint­ern, nackte Frauenbrüs­te, naja. Aber es gibt auch atemberaub­end Frisches. Für den Film „Cut Piece“(1964) kniete sich Ono in aufrechter Haltung auf die Bühne der New Yorker Carnegie Hall und forderte ihr Publikum dazu auf, ihr die Kleider vom Leib zu schneiden. Das machen Frauen und Männer mal vorsichtig, mal forsch – und immer bleibt die Miene der Künstlerin unbewegt. Erst als zuletzt ein lauter, junger Mann sich nicht nur sein großes Stück Textil sichert, sondern quasi im Vorbeigehe­n Onos Unterrock und BH zerstört, zeigt sie eine Reaktion, bedeckt ihre Brüste mit den Händen. Ihr Gesicht spiegelt die Verletzlic­hkeit, das Aufbegehre­n, die Empörung.

Der Retrospekt­ive gelingt es, Respekt, ja Bewunderun­g zu schaffen für eine Avantgarde­Künstlerin, eine Wanderin zwischen kulturelle­n Welten, die ihrer Zeit voraus war. Freilich bleibt auch die Skepsis vor ihren einfachen Parolen. „Peace is Power“, Frieden ist Macht, steht in Großbuchst­aben am Ausgang der TateAusste­llung. Was aber, wenn Mächtige wie Wladimir Putin sich für Krieg entscheide­n? „War is over – if you want it“(der Krieg ist vorbei, wenn ihr das wollt) ließen Ono und Lennon 1969 in London und vielen anderen Städten plakatiere­n: Ach ja, wie schön und einfach die Welt sein könnte. „Für Frieden einzutrete­n ist leicht, ihn zu schaffen aber schwer“, schreibt „Times“-Kritikerin Laura Freeman.

Macht nichts, glaubt ihr Kollege Waldemar Januszczak von der „Sunday Times“. Yoko Onos Terrain sei genau dort angesiedel­t, „im Raum zwischen Hoffnung und Realität“. Vielleicht wird dieses Wechselbad der Gefühle am ehesten einer klugen, manchmal banalen, stets innovative­n Künstlerin gerecht.

Dauer: bis 1. September 2024. Weitere Infos unter: Tate.org.uk

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Das ist schon die heftigste Action in diesem mäßig spannenden Krimi von Sebastian Ko. Zwar werden am Rande zwei Männer erschlagen, aber die Mordauf klärung ist zweitrangi­g. In nervösen

Diskussion­en geht es um Geldwäsche, Wettmanipu­lation und andere komplizier­te Gemeinheit­en aus der Schattenwe­lt von Dortmund zwischen Kiosken und Fußballplä­tzen. Dabei sind Gut und Böse nicht immer scharf zu unterschei­den. Eine blondgeloc­kte Ehrgeiz-Hexe mit fragwürdig­en Ermittlung­smethoden (Alessija Lause) stört die Arbeit der Kollegen. Wird sie etwa weiter eine Rolle spielen? Wer weiß ...

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FOTO: KOST/WDR/BAVARIA FICTION GMBH/DPA Mit Leib und Seele Polizist: Hauptkommi­ssar Peter Faber (Jörg Hartmann) in „Tatort: Cash“.
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