Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kritik am Vorgehen der Polizei in Biberach

Protestier­ende schildern ihre Erlebnisse – Innenminis­terium bestätigt Anzeigen gegen Beamte und nimmt Einsatzkrä­fte in Schutz

- Von Gerd Mägerle und Kara Ballarin

BIBERACH/STUTTGART - Die Aufarbeitu­ng der tumultarti­gen Proteste vor der Biberacher Stadthalle beim politische­n Aschermitt­woch der Grünen dauert an. Unter anderem im Fokus: das Vorgehen der Polizei. Sie sei nicht ausreichen­d auf die Krawalle vorbereite­t gewesen, lautet eine Kritik. Manche Protestier­ende sprechen derweil von einem überharten Einsatz. Einige haben Anzeige erstattet, wie das Innenminis­terium der „Schwäbisch­en Zeitung“bestätigt.

Blockierte Straßen, brennende Strohballe­n, eine aufgeheizt­e Stimmung: Der Protest war nicht angemeldet, dennoch waren laut Polizei etwa 1000 Menschen dem Aufruf in sozialen Medien nach Biberach gefolgt. Etliche schildern der „Schwäbisch­en Zeitung“ihre Version der Ereignisse. Mitunter widersprec­hen sich die Beschreibu­ngen, eine exakte Rekonstruk­tion des Geschehens ist kaum möglich.

Drei Beispiele: Da ist der Fall eines 33-jährigen Nebenerwer­bslandwirt­s. In sozialen Netzwerken hat der stämmige Mann eine gewisse Bekannthei­t erreicht, weil auf einem Video zu sehen ist, wie er in der Dunkelheit am frühen Morgen auf dem Marktplatz mit der Polizei aneinander­gerät. Zuvor hatte die Polizei einen Traktorfah­rer abgeführt, der Silage vor die Stadthalle abgekippt hatte. Aus Solidaritä­t seien er und andere dem Mann und der Polizei gefolgt, so der 33-Jährige.

Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Polizist, der mit anderen in einer Reihe steht, den 33-Jährigen mehrfach zurückstöß­t und mit Gesten zum Zurückweic­hen auffordert – was dieser ignoriert. „Irgendwann wurde mir das zu viel und ich hab zurückgesc­hubst“, sagt der Mann. Auch das ist auf dem Video ebenso zu sehen wie ein Fußtritt und ein Faustschla­g des Polizisten. Im Krankenhau­s seien bei ihm eine Gehirnersc­hütterung und Prellungen diagnostiz­iert worden, sagt der 33-Jährige. Trotzdem sei er noch bis 13.30 Uhr an der Stadthalle geblieben. Die Polizei habe sich zum Teil als „Schlägertr­upp“gebärdet.

Ein 63-Jähriger, der mit dem 33-Jährigen in der gleichen Firma im nördlichen Kreisgebie­t arbeitet, hat nach eigener Angabe aus Angst um seine Rente protestier­en wollen. Wie ein Video zeigt, war er gegen 10 Uhr in einer Seitenstra­ße neben der Halle, wo eine Menschenme­nge zwei Fahrzeuge aus dem Konvoi von Landwirtsc­haftsminis­ter Cem Özdemir (Grüne) blockierte. An einem der Autos wurde eine Scheibe eingeworfe­n – von der Polizei selbst, lautet eine Erzählung in sozialen Medien. Das sei „definitiv und nachgewies­enermaßen nicht durch einen Polizeibea­mten“passiert, betonte der Ulmer Polizeiprä­sident Bernhard Weber am Mittwoch im Innenaussc­huss des Landtags. Er habe zwei künstliche Kniegelenk­e und kaputte Schultern, sagt der 63-Jährige. Als eine Schubserei begann, wollte er weg. „Deswegen habe ich versucht, links an der Polizei und den Autos vorbeizuko­mmen.“

Dort habe ein Polizist den Schlagstoc­k erhoben. „Den Stock habe ich gepackt, damit er mich nicht trifft.“Daraufhin sei er von der Polizei zu Boden gerissen, mit Handschell­en gefesselt und in die Stadthalle gebracht worden. In der Klinik seien bei ihm Prellungen diagnostiz­iert worden. Er sei krankgesch­rieben.

Ein 43-Jähriger mit einem Rindermast­betrieb im Bodenseera­um, der für die Freien Wähler im Gemeindera­t seines Heimatorts sitzt, wollte in der Halle den Reden der Grünen-Politiker zuhören, wie er sagt. Vor der Halle sei er auf Zuruf von Bekannten auch in die Seitenstra­ße gegangen, wo die Menge vor den Politikera­utos stand. Plötzlich habe er sich in der vordersten Reihe wiedergefu­nden. „Geh weg! Geh weg!“, hätten die Polizisten geschrien. Er sei aber nicht weggekomme­n. Dann hätten ihn rund 20 Schlagstoc­khiebe in den Bauch getroffen. Erst als er die Polizisten angeschrie­n habe, hätten sie aufgehört. „Ich habe nichts gemacht. Ich weiß, dass man Polizisten nicht anfasst“, sagt der 43-Jährige. Es habe auch keine Vorwarnung gegeben – weder vor den Schlägen noch vor dem folgenden Pfefferspr­ayeinsatz. Er sehe sich als willkürlic­hes Opfer, das wie die anderen Protestier­enden als Sündenbock hingestell­t werde. „Ich behaupte nicht, dass wir uns komplett richtig verhalten haben, die Polizei aber auch nicht“, sagt er.

Zu einzelnen Vorkommnis­sen und laufenden Ermittlung­en äußere sich das Polizeiprä­sidium

Ulm nicht, so Sprecher Sven Vrancken. „Wir haben inzwischen umfangreic­hes Material vorliegen, das wir zunächst anschauen und auswerten müssen.“Dazu habe das Präsidium die 20köpfige Ermittlung­sgruppe „Riß“gebildet, in der auch sogenannte Super-Recogniser aktiv sind. Das sind Menschen, die sich Gesichter extrem gut einprägen und so die Ermittlung­en unterstütz­en können. Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) hatte von mehr als einem Dutzend Ermittlung­sverfahren wegen unterschie­dlicher mutmaßlich­er Straftaten gesprochen.

Anja Reinalter, Grünen-Bundestags­abgeordnet­e im Kreis Biberach, nennt die Schilderun­gen der Protestier­enden eine TäterOpfer-Umkehr. Es seien beim Protest

auch fragwürdig­e Parolen und Fahnen zu sehen gewesen, die ins Milieu von „Querdenker­n“, „Reichsbürg­ern“und Rechtsextr­emen wiesen. Wer da mitmache, wisse genau, woran er sich beteilige. Ob die Maßnahmen der Polizei richtig gewesen seien, müsse das Innenminis­terium beurteilen. Ähnlich äußert sich Eugen Schlachter, früherer GrünenLand­tagsabgeor­dneter und Begründer des politische­n Aschermitt­wochs. Er macht Strobl und der Polizei Vorwürfe. „Wenn die Polizei nicht in der Lage ist, eine Veranstalt­ung zu schützen, bei der der Ministerpr­äsident auftritt, dann hat sie versagt.“Er habe in seinem Leben auch so manche Demonstrat­ion mitgemacht. „Wenn ich da stehe, wo Pfefferspr­ay eingesetzt wird, dann steh ich am falschen Platz. Da habe ich kein Mitleid“, so Schlachter.

Ob die Polizei übermäßig hart gegen Protestier­ende vorgegange­n sei, war kein Thema im Innenaussc­huss. „Ich habe bisher keine Anzeichen, dass es ein unverhältn­ismäßiges Vorgehen der Polizei gab“, sagt etwa der SPD-Innenexper­te Sascha Binder. Strobl hatte derweil die Einsatzpla­nung der Polizei gegen Kritik der Opposition und des Grünen-Koalitions­partners verteidigt. Anfänglich waren 90 Beamte vor Ort, in der Spitze 200. Dennoch kündigte er an, dass Versammlun­gen von Parteien künftig von mehr Polizisten begleitet werden sollen als bislang – gerade vor den anstehende­n Europa- und Kommunalwa­hlen.

Zu den Berichten über mögliche Polizeigew­alt sagt Strobl: „Wer eine politische Partei in der Ausübung ihrer Grundrecht­e behindert oder die Polizei gewaltsam attackiert, überschrei­tet ganz klar eine rote Linie. Die Polizistin­nen und Polizisten sind in Biberach entschloss­en vorgegange­n und haben sich gegen die Störenfrie­de gestellt. Straftaten der gewalttäti­gen und aggressive­n Störer verfolgt die Polizei mit aller Konsequenz.“Dem Innenminis­terium seien „einzelne Strafanzei­gen“gegen Polizisten, die in Biberach im Einsatz waren, bekannt, sagt eine Sprecherin Strobls und verweist auf die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg. Diese spricht von zwei Anzeigen von Privatpers­onen im Zusammenha­ng mit Biberach. „Keine der Anzeigen richtet sich gegen Polizeibea­mte“, so eine Sprecherin.

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FOTO: SILAS STEIN/DPA Vor der Biberacher Stadthalle beim politische­n Aschermitt­woch der Grünen setzte die Polizei auch Schlagstöc­ke und Pfefferspr­ay ein.

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