Schwäbische Zeitung (Tettnang)
9000 neue Plätze für Flüchtlinge
Grün-schwarze Landesregierung beschließt Konzept für Ausbau der Erstaufnahme
STUTTGART - In Baden-Württemberg fehlen 9000 Plätze in Aufnahmezentren für ankommende Flüchtlinge. Ministerin Marion Gentges (CDU) rechnet mit jährlich mindestens 18.300 Ankommenden – und das sei konservativ geschätzt. Am Dienstag hat die grün-schwarze Landesregierung ihre Pläne für den Umgang damit beschlossen.
Wie hat sich die Zahl der Flüchtlinge entwickelt?
Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie im vergangenen Jahrzehnt, heißt es in der Beschlussvorlage für die Landesminister, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt. Gentges beruft sich darin auf Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). 2022 waren es demnach 108,4 Millionen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verließen – ein Plus von mehr als 150 Prozent im Vergleich zu 2012.
Das macht sich auch in BadenWürttemberg bemerkbar. Das Land ist gesetzlich verpflichtet, 13 Prozent der in Deutschland Ankommenden aufzunehmen. Im Jahr 2022 hat Baden-Württemberg in der Summe rund 176.000 Personen aufgenommen, mehr als in den zugangsstarken Jahren 2015 und 2016 zusammen. Hauptgrund war der russische Angriff auf die Ukraine, vor dem mehr als 146.000 Menschen nach Baden-Württemberg flohen.
2023 nahm das Land rund 79.000 Flüchtlinge auf. Allerdings sank der Anteil der Ukraine-Flüchtlinge, und zwar um mehr als 40 Prozent auf rund 41.300. Dagegen kamen etwa ein Drittel mehr Menschen aus anderen Staaten, nämlich rund 37.700. Seit November 2023 zählt Baden-Württemberg pro Monat jedoch weniger Flüchtlinge. Im Januar waren 1759 Asylsuchende registriert. Das war gegenüber dem Vorjahresmonat ein Rückgang von 967. Als ein Grund dafür gelten die seit Oktober wieder eingeführten Grenzkontrollen zur Schweiz.
Wer wird in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und wer anderswo?
Wie der der Name schon sagt, landen die Flüchtlinge zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen. Dort werden ihre Personalien erfasst, so vorhanden Ausweisdokumente geprüft und Sicherheitschecks durchgeführt – etwa durch Abgleiche mit internatioin nalen Fahndungsdatenbanken. Außerdem untersuchen Ärzte die Ankommenden. Es wird vor Ort ein Asylantrag gestellt.
Nach maximal 18 Monaten müssen die Menschen aus der Erstaufnahme weiterverteilt werden. Das ist rechtlich so geregelt um zu vermeiden, dass Menschen zu lange in den Sammelunterkünften bleiben müssen. Dort sind die Bedingungen verhältnismäßig beengt. Deswegen geht es aus der Erstaufnahme in Unterkünfte der Landkreise, die wiederum die Menschen von dort auf die Städte und Gemeinden verteilen.
Wie viele Plätze gibt es?
Derzeit regulär 6244. Doch das reicht nicht aus. Deshalb stellt das Land weitere 7892 Plätze zur Verfügung, die aber nur als Übergangslösung dienen sollen. Sie sind entweder zusätzlich zu den regulären Plätzen in den Erstaufnahmezentren entstanden oder eigens eingerichteten Notunterkünften wie etwa in Messehallen. Erstaufnahmezentren gibt es in Heidelberg, Karlsruhe, Freiburg, Ellwangen, Sigmaringen, Giengen an der Brenz, Tübingen, Schwetzingen, Mannheim, Eggenstein-Leopoldshafen und Kornwestheim.
Wie wird sich die Lage entwickeln?
Belastbare Prognosen sind aus Sicht des Ministeriums schwierig, auch der Bund liefere dazu keine aktuellen Zahlen. Einer entsprechenden Bitte der Bundesländer von Anfang November sei der Bund noch nicht nachgekommen. Deswegen zieht das Land ältere Prognosen aus Berlin zu Rate. Ergebnis: Gentges geht davon aus, dass weiter Flüchtlinge „in größerer Zahl“nach Baden-Württemberg kommen. Die Lage in Syrien und Afghanistan bleibe weiter angespannt, ein Ende des
Ukraine-Kriegs sei nicht absehbar. Die wichtigste Ursachen für Flucht seien gewaltsame Konflikte und Kriege, Hunger und der fortschreitende Klimawandel – das bleibe auch mittelfristig so. Deswegen rechnet sie durchschnittlich mit mindestens 18.300 neu ankommenden Personen pro Jahr.
Wie viele Plätze muss das Land einrichten?
9000 mehr als bisher, nämlich 15.000. In den Sammelunterkünften können nie alle Betten auch tatsächlich belegt werden – etwa, weil alleinstehende Männer und Frauen getrennt untergebracht werden und Familien einen eigenen Raum haben müssen. Erfahrungsgemäß sei nur eine Auslastung von 80 Prozent machbar, so das Ministerium. Das handhaben auch Bayern oder NRW so. Bei 15.000 Betten könnten also maximal 12.000 Menschen regulär in der Erstaufnahme Platz finden. Weitere Plätze sollen sich wie bisher als Übergangslösung einrichten lassen.
Wo könnten diese Einrichtungen entstehen – und wann?
Das Ministerium geht davon aus, dass es mindestens neun neue Einrichtungen braucht. Dafür gibt es derzeit für folgende Standorte Pläne: Bruchsal, Pforzheim, Waldkirch, Böblingen, Sindelfingen und Ludwigsburg, weitere Optionen könnte es in Fellbach, Crailsheim und Stuttgart geben. Vor Ende der 2020er-Jahre rechnet Ministerin Gentges nicht mit Neueröffnungen. An jedem möglichen Standort müssen zum Beispiel Fragen der Wirtschaftlichkeit, des Baurechts oder des Artenschutzes geprüft werden. Hinzu kommt der Widerstand vor Ort – und der ist an den bislang ins Auge gefassten Standorten nahezu überall groß.
Wird auch gegen den Widerstand einer Kommune eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet?
Das ist rechtlich möglich. Die Landesregierung aus Grünen und CDU will das zwar vermeiden, Ministerin Gentges und auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) haben aber bereits mehrfach betont, zur Not auch diese Option nutzen zu wollen. Das ist aber nur möglich, wenn das Land ein Grundstück oder ein Gebäude kauft oder pachtet – oder eines nutzt, das ihm bereits gehört. Enteignungen sind rechtlich wohl nicht durchsetzbar. Das Konzept der Landesregierung sieht nun vor, mögliche Standortkommunen stärker in die Planungen mit einzubeziehen