Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Beleidigt, beschimpft, verprügelt
Grüne, Sozialdemokraten und Liberale werden besonders oft Ziel von Attacken
STUTTGART - In Amtzell im Kreis Ravensburg wird ein Kandidat der Grünen für den Gemeinderat niedergeschlagen. Im badischen Weingarten fragen Windkraftgegner eine FDP-Politikerin, ob sie ihre Meinung zum Thema ändern würde, wenn man ihre „Gesundheit mit einer Schusswaffe bedroht“. In Bietigheim-Bissingen besprühen Jugendliche zwei AfD-Abgeordnete mit roter Farbe. Drei Beispiele aus den vergangenen zwölf Monaten. In dieser Zeit ist die Zahl der Angriffe auf Politiker gestiegen. Wie groß das Problem ist und was sich dagegen tun lässt.
Manuel Leutner arbeitet beim Landeskriminalamt für die Zentrale Ansprechstelle für Amtsund Mandatsträger (ZAMAT). Innenminister Thomas Strobl (CDU) hat diese 2019 eingerichtet, um Bürgermeistern, Kreisräten und anderen Mandatsträgern zur Seite zu stehen. Seitdem hat man sich dort um mehr als 100 Fälle gekümmert, Anrufer beraten und weitere Hilfe vermittelt, seit Kurzem steht auch eine Psychologin bereit. „Viele Menschen, die uns anrufen, leiden vor allem unter dem Gefühl der Unsicherheit. Sie sind in den allermeisten Fällen nicht Oper von Attacken geworden, aber sehen erste Anzeichen dafür, dass es dazu kommen könnte“, berichtet Leutner. „Ob nun tatsächlich eine Straftat geschieht oder nicht, oft wirken auch Vorfälle unterhalb dieser Schwelle verheerend auf die Betroffenen.“Dabei lasse sich kein parteipolitischer Schwerpunkt ausmachen, betroffen seien Amts- und Mandatsträger aller Lager. „Es melden sich Bundestagsabgeordnete, Landtagsabgeordnete und Lokalpolitiker – unserem Eindruck nach sind darunter besonders viele Bürgermeister“, erzählt Leutner.
Statistiken zu Attacken auf Politiker liegen für die Zeit bis Ende September 2023 vor. Gezählt werden Attacken auf Parteimitglieder, bei denen die Polizei nach Abschluss ihrer Ermittlungen von einem politischen Motiv ausgeht. Fazit: Es gab in Baden-Württemberg 254 Übergriffe, mehr als doppelt so viele wie in den ersten neun Monaten des Jahres 2022. Während der Corona-Pandemie lagen die Zahlen höher – im gesamten Jahr 2021 waren es mehr als 500. Laut Innenministerium waren körperliche Übergriffe in den ersten drei Quartalen 2023 selten, meist wurden die Betroffenen beleidigt. Opfer körperlicher Gewalt wurden am häufigsten
AfD-Politiker, es gab vier Fälle. Insgesamt zählte die Polizei in diesem Zeitraum 25 Übergriffe auf AfD-Mitglieder, zwei mehr als im Vorjahreszeitraum. Die meisten Übergriffe richteten sich gegen Grüne, nämlich in 107 Fällen – mehr als dreimal so viel wie zuvor (32). SPD-Politiker standen 57 mal im Fokus (erste drei Quartale 2022: 26), Vertreter der FDP 48 mal (zuvor: acht), CDU/CSU-Mitglieder 14-mal (zuvor: 16), Vertreter der Linken viermal (zuvor: 0) und Politiker sonstiger Parteien fünfmal (zuvor: 6). Anhänger der im Bund regierenden Ampel-Parteien wurden also erheblich häufiger Opfer als noch im Jahr 2022.
Steffen Jäger befürchtet, dass die aufgeheizte Stimmung der vergangenen Woche Nährboden für weitere Übergriffe liefert. Deshalb mahnt der Chef des badenwürttembergischen Gemeindetags
mit Blick auf die im Juni anstehenden Kommunal- und Europawahlen: „Wer Bewerberinnen und Bewerber, Interessierte oder Parteimitglieder belästigt, beleidigt oder bedrängt, beeinf lusst die demokratische Arbeit von Parteien. Gewalt, Hass und Hetze sind nicht akzeptabel.“Es sei wichtig, engagierte Menschen für die Arbeit in den örtlichen Parlamenten zu finden. „Es ist sehr bedenklich, wenn der Respekt gegenüber den Menschen, die haupt- und ehrenamtlich Verantwortung für andere übernehmen, immer weiter abnimmt. Ohne sie funktioniert unsere Gesellschaft nicht“, so Jäger.
Ob Bauernproteste oder Demonstrationen gegen Rechtsextremismus – offensichtlich motiviert die aktuelle Stimmungslage auch Menschen, sich politisch zu engagieren. Eine Sprecherin der
Grünen in Baden-Württemberg erklärt, bis Ende vergangen Jahres sei die Kandidatensuche für die Kommunalwahlen im Vergleich zu 2019 mühsam gewesen. Das habe sich nach Medienberichten über Treffen hochrangiger AfD-Politiker mit Rechtsextremisten geändert. „Es ist zu spüren, dass die Menschen sich für die Demokratie einbringen möchten – beispielsweise auch durch eine Kandidatur auf einer Kommunalwahlliste“, so die Sprecherin. Der Übergriff auf einen Kandidaten in Amtzell und die Anti-GrünenProteste in Biberach hätten für Unruhe gesorgt, es sei jedoch eine „Jetzt-erst-recht-Stimmung zu spüren“. Die Partei verzeichnet derzeit rund 17.450 Mitglieder.
AfD-Landeschef Markus Frohnmaier beobachtet einen ähnlichen Effekt: „Seit dem 1. Januar 2024 bis jetzt haben unsere Mitgliederzahlen von circa 4900 Mitgliedern auf circa 5200 Mitglieder zugelegt, ein Wachstum von etwa sechs Prozent in weniger als zweieinhalb Monaten.“Weitere 900 Anträge seien in Bearbeitung. Ob die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus einen Effekt hätten, sei fraglich, wenn, dann einen leicht positiven. Der Landesverband der AfD wird vom Verfassungsschutz beobachtet, der Anhaltspunkte für demokratiefeindliche Tendenzen sieht. Die Partei wehrt sich gegen diese Einschätzung vor Gericht.
Die CDU bleibt mit mehr als 52.500 Mitgliedern größte Partei im Land. Sie meldet deutliche Zuwächse: In den ersten beiden Monaten des Jahres zählte man mit durchschnittlich 350 neuen Unterstützern drei- bis viermal so viele Eintritte wie sonst. Laut Landesgeschäftsführer Tobias Vogt ein Trend, der seit der Wahl des neuen Südwest-Chefs Manuel Hagel im November 2023 anhält. Die Aufstellung der Kandidatenliste für die Kommunalwahlen laufe gut. „Wir haben so viele motivierte Kandidatinnen und Kandidaten, Frauen und Männer, junge Starter und erfahrene Köpfe – einfach eine gute Mischung“, so Vogt.
Die SPD im Land verzeichnet ebenfalls einen Aufschwung. Die Beitrittszahlen haben sich laut einer Sprecherin im Januar und Februar 2024 gegenüber einem durchschnittlichen Vormonat verfünffacht, liegen bei mehr als 200 im Vier-Wochen-Zeitraum und insgesamt bei rund 31.200. Die FDP zählte Ende 2023 rund 9300 Mitglieder, ein im Vorjahr waren es noch 9675. Zahlen für die ersten Monate 2024 liegen noch nicht vor.