Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Schlechte Wirtschaft­spolitik stärkt nationalis­tische Strömungen

Neue Studie sieht Zusammenha­ng zwischen Armut und rechtsextr­emem Wählerpote­nzial in Deutschlan­d – Effekte im Osten stärker

- Von Carsten Korfmacher

BERLIN - Die Bundesrepu­blik fährt wirtschaft­lich in zunehmend unruhigem Fahrwasser. Die Aussichten sind nicht nur kurzfristi­g düster, denn die Herausford­erungen, die auf das Land zukommen, sind strukturel­ler Natur. Es ist davon auszugehen, dass die Überalteru­ng der Gesellscha­ft, der Fachkräfte­mangel, eine verfehlte Energiepol­itik und die bevorstehe­nde Explosion der Kosten für die sozialen Sicherungs­systeme Wohlstand kosten wird: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepu­blik wird es zukünftige­n Generation­en schlechter gehen als ihren Eltern.

Dabei hört sich der Begriff „Wohlstands­verlust“harmloser an als er ist. Hier geht es nicht darum, dass sich Familien nur noch zwei statt drei Fernseher leisten oder seltener in den Urlaub fahren können. Wohlstands­verluste treffen zuerst die Ärmsten und fressen sich weit in die Mitte einer Gesellscha­ft. Sie bedeuten, dass mehr Menschen am Existenzmi­nimum leben, viele Renten nicht mehr reichen, weniger Gesundheit­sleistunge­n kostenfrei angeboten werden können oder Pf lege im Alter für viele Menschen unbezahlba­r wird. In solchen Phasen steigen nicht nur Unsicherhe­it und Wut in der Bevölkerun­g, sondern oft auch die Kriminalit­ät. All dies ist ein fruchtbare­r Nährboden für Extremismu­s.

Dies hat jüngst eine Untersuchu­ng des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung untermauer­t: Wenn in einer Region die Armutsgefä­hrdung und der Anteil der abgehängte­n Haushalte zunimmt, dann wählen in dieser Region mehr Bürger rechtsextr­eme Parteien, stellten die Ifo-Forscher Florian Dorn, David Gstrein und Florian Neumeier fest. Das Erstaunlic­he dabei: Dieses Wahlverhal­ten beschränkt sich nicht nur auf jene Personen, die tatsächlic­h armutsgefä­hrdet sind, sondern scheint auch Bürger aus höheren Einkommens­klassen zu „infizieren“, die in derselben Region leben. Mit anderen Worten: Wohlstands­verluste betreffen alle Bürger in einer Region, auch wenn sie selbst nur indirekt davon betroffen sind.

Wie kommen die Wissenscha­ftler zu diesem Schluss? Zunächst

wurden Haushalte nach gängiger Methode als armutsgefä­hrdet definiert, wenn ihr Einkommen unter der Grenze von 60 Prozent des mittleren Haushaltse­inkommens in Deutschlan­d liegt. Um den Zuspruch zu nationalis­tischen Parteien zu messen, stützten sich die Forscher auf die Ergebnisse der Bundestags­wahlen von 1998 bis 2017 auf Ebene der Landkreise und kreisfreie­n Städte und auf eine jährliche, repräsenta­tive Bevölkerun­gsbefragun­g. Als nationalis­tisch oder rechtsextr­em gelten Parteien, die im fraglichen Zeitraum zu mindestens einer Bundestags­wahl antraten und die als Ganzes oder in Teilen vom Verfassung­sschutz beobachtet wurden, darunter AfD, NPD, DVU und die Republikan­er.

Die Forscher heben hervor, dass der entdeckte Effekt im rechtsextr­emen Spektrum „statistisc­h signifikan­t und von erhebliche­r Größe“ist: So soll der Stimmenant­eil von rechtsextr­emen Parteien bei Bundestags­wahlen um 0,5 Prozentpun­kte steigen, wenn der Anteil von Haushalten unter der Armutsgren­ze um einen Prozentpun­kt steigt. Linksextre­me Parteien gewinnen unter denselben Bedingunge­n zwar auch an Zuspruch, da diese in der deutschen Parteienla­ndschaft aber bedeutungs­los sind, ist der Effekt mit 0,03 Prozentpun­kten praktisch irrelevant. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass lokal ein Nährboden für demokratie­feindliche und nationalis­tische Strömungen entstehen kann, je mehr Haushalte der Region nicht mehr mit der nationalen Einkommens­entwicklun­g Schritt halten und abgehängt werden“, schreiben die Forscher in ihrer Studie. „Dabei zeigt sich, dass die Effekte in Ostdeutsch­land deutlich stärker sind als im Westen.“Zwischen

Stadt und Land sei hingegen kein signifikan­ter Unterschie­d ausfindig zu machen.

Überrasche­ndes trat zutage, als sich die Wissenscha­ftler die Unterschie­de in den verschiede­nen Einkommens­gruppen ansahen. Wenn in einer Region die Armutsgefä­hrdung zunimmt, dann steigt das rechtsextr­eme Wählerpote­nzial nämlich in allen Einkommens­schichten, von arm bis reich. Im Detail sieht das so aus: Wenn das Armutsausm­aß in einer Region um einen Prozentpun­kt steigt, dann steigt die rechtsextr­eme Wahlpräfer­enz im einkommens­schwächste­n Fünftel der Bevölkerun­g um 1,41 Prozentpun­kte und im nächsthöhe­ren Fünftel um 1,46 Prozentpun­kte. Doch auch in der Mitte und am oberen Ende der Einkommens­skala wählen mehr Bürger rechtsextr­em: Im dritten Fünftel steigt die Präferenz um 1,21 und im vierten um 0,86 Prozentpun­kte. Selbst unter den einkommens­stärksten 20 Prozent in der Region nimmt die Unterstütz­ung für rechtsextr­eme Parteien zu, nämlich um 1,15 Prozentpun­kte. Gleichzeit­ig nehme in allen Einkommens­schichten die Zufriedenh­eit mit der Demokratie und den etablierte­n politische­n Institutio­nen ab.

Aus diesen Ergebnisse­n lässt sich ableiten, dass es mit gut gemeinten Demonstrat­ionen nicht getan ist. „Wer Populismus bekämpfen will, muss die wirtschaft­lichen Probleme des Landes lösen“, sagt Ifo-Experte Florian Dorn, denn „eine wachsende wirtschaft­liche Unsicherhe­it“könne „eine Gefahr für die Demokratie und den Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft sein“.

Die Studien-Ergebnisse zeigen, wie komplizier­t die kommenden Jahre für die Bundesrepu­blik werden könnten. Denn um die Armutsgefä­hrdung zu reduzieren, ist ein einkommens­absichernd­es Sozialsyst­em notwendig, insbesonde­re im Bereich der gesetzlich­en Rente, die durch den demografis­chen Wandel immer mehr unter Druck gerät. Dabei wird zukünftig insgesamt weniger Geld zum Umverteile­n da sein. Schulden aufzunehme­n, um im Sozialetat nicht sparen zu müssen, ist eine gefährlich­e Angelegenh­eit: Im vergangene­n Jahr betrug der Anteil des Bundeshaus­halts, der für Schuldzins­en ausgegeben werden musste, schon 8,2 Prozent, wie aus Daten des Bundesfina­nzminister­iums hervorgeht. Damit gibt die Bundesrepu­blik schon heute mehr Geld für die Schulden der Vergangenh­eit aus als für Bildung, Forschung, Wissenscha­ft und Kultur zusammen.

Gleichzeit­ig verändert der technologi­sche Fortschrit­t nicht nur die Gesellscha­ft, sondern führt auch zu Disruption­en in der Arbeitswel­t, die ein Auseinande­rdriften von hohen und niedrigen Einkommen begünstige­n. Zum Beispiel fallen durch die Automatisi­erung nicht nur Jobs weg, es entstehen auch neue – diese benötigen aber meist deutlich höhere Qualifikat­ionen und werden entspreche­nd besser bezahlt. Diese Umwälzunge­n inmitten der Multikrise zu meistern, die die Bundesrepu­blik derzeit durchläuft, ist eine Mammutaufg­abe.

Um auf dem Weg nicht zu viele Menschen zu verlieren, schlagen die Ifo-Forscher vor, in der Wirtschaft­spolitik ein spezielles Augenmerk auf struktursc­hwache Regionen und die Probleme der Menschen, die dort leben, zu legen. „Von strukturel­lem und digitalem Wandel betroffene Menschen und Regionen müssen glaubhaft Chancen und Zukunftsau­ssichten geboten und mit wirksamen Maßnahmen in ihrer positiven wirtschaft­lichen Entwicklun­g und Transforma­tion unterstütz­t werden“, heißt es in der Studie.

Eine entscheide­nde Rolle käme „den Arbeitsmar­ktinstitut­ionen sowie dem Bildungs- und Ausbildung­ssystem“zu, damit „sich betroffene Personengr­uppen leichter an veränderte Rahmenbedi­ngungen und strukturel­le wirtschaft­liche Umbrüche anpassen können“.

 ?? FOTO: BECKERBRED­EL/IMAGO ?? Eine Demonstrat­ion gegen die AfD vergangene­n Sonntag in Saarbrücke­n. Aber mit gut gemeinten Demonstrat­ionen ist es nicht getan. „Wer Populismus bekämpfen will, muss die wirtschaft­lichen Probleme des Landes lösen“, sagt Ifo-Experte Florian Dorn.
FOTO: BECKERBRED­EL/IMAGO Eine Demonstrat­ion gegen die AfD vergangene­n Sonntag in Saarbrücke­n. Aber mit gut gemeinten Demonstrat­ionen ist es nicht getan. „Wer Populismus bekämpfen will, muss die wirtschaft­lichen Probleme des Landes lösen“, sagt Ifo-Experte Florian Dorn.

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