Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Schlechte Wirtschaftspolitik stärkt nationalistische Strömungen
Neue Studie sieht Zusammenhang zwischen Armut und rechtsextremem Wählerpotenzial in Deutschland – Effekte im Osten stärker
BERLIN - Die Bundesrepublik fährt wirtschaftlich in zunehmend unruhigem Fahrwasser. Die Aussichten sind nicht nur kurzfristig düster, denn die Herausforderungen, die auf das Land zukommen, sind struktureller Natur. Es ist davon auszugehen, dass die Überalterung der Gesellschaft, der Fachkräftemangel, eine verfehlte Energiepolitik und die bevorstehende Explosion der Kosten für die sozialen Sicherungssysteme Wohlstand kosten wird: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird es zukünftigen Generationen schlechter gehen als ihren Eltern.
Dabei hört sich der Begriff „Wohlstandsverlust“harmloser an als er ist. Hier geht es nicht darum, dass sich Familien nur noch zwei statt drei Fernseher leisten oder seltener in den Urlaub fahren können. Wohlstandsverluste treffen zuerst die Ärmsten und fressen sich weit in die Mitte einer Gesellschaft. Sie bedeuten, dass mehr Menschen am Existenzminimum leben, viele Renten nicht mehr reichen, weniger Gesundheitsleistungen kostenfrei angeboten werden können oder Pf lege im Alter für viele Menschen unbezahlbar wird. In solchen Phasen steigen nicht nur Unsicherheit und Wut in der Bevölkerung, sondern oft auch die Kriminalität. All dies ist ein fruchtbarer Nährboden für Extremismus.
Dies hat jüngst eine Untersuchung des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung untermauert: Wenn in einer Region die Armutsgefährdung und der Anteil der abgehängten Haushalte zunimmt, dann wählen in dieser Region mehr Bürger rechtsextreme Parteien, stellten die Ifo-Forscher Florian Dorn, David Gstrein und Florian Neumeier fest. Das Erstaunliche dabei: Dieses Wahlverhalten beschränkt sich nicht nur auf jene Personen, die tatsächlich armutsgefährdet sind, sondern scheint auch Bürger aus höheren Einkommensklassen zu „infizieren“, die in derselben Region leben. Mit anderen Worten: Wohlstandsverluste betreffen alle Bürger in einer Region, auch wenn sie selbst nur indirekt davon betroffen sind.
Wie kommen die Wissenschaftler zu diesem Schluss? Zunächst
wurden Haushalte nach gängiger Methode als armutsgefährdet definiert, wenn ihr Einkommen unter der Grenze von 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens in Deutschland liegt. Um den Zuspruch zu nationalistischen Parteien zu messen, stützten sich die Forscher auf die Ergebnisse der Bundestagswahlen von 1998 bis 2017 auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte und auf eine jährliche, repräsentative Bevölkerungsbefragung. Als nationalistisch oder rechtsextrem gelten Parteien, die im fraglichen Zeitraum zu mindestens einer Bundestagswahl antraten und die als Ganzes oder in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, darunter AfD, NPD, DVU und die Republikaner.
Die Forscher heben hervor, dass der entdeckte Effekt im rechtsextremen Spektrum „statistisch signifikant und von erheblicher Größe“ist: So soll der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien bei Bundestagswahlen um 0,5 Prozentpunkte steigen, wenn der Anteil von Haushalten unter der Armutsgrenze um einen Prozentpunkt steigt. Linksextreme Parteien gewinnen unter denselben Bedingungen zwar auch an Zuspruch, da diese in der deutschen Parteienlandschaft aber bedeutungslos sind, ist der Effekt mit 0,03 Prozentpunkten praktisch irrelevant. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass lokal ein Nährboden für demokratiefeindliche und nationalistische Strömungen entstehen kann, je mehr Haushalte der Region nicht mehr mit der nationalen Einkommensentwicklung Schritt halten und abgehängt werden“, schreiben die Forscher in ihrer Studie. „Dabei zeigt sich, dass die Effekte in Ostdeutschland deutlich stärker sind als im Westen.“Zwischen
Stadt und Land sei hingegen kein signifikanter Unterschied ausfindig zu machen.
Überraschendes trat zutage, als sich die Wissenschaftler die Unterschiede in den verschiedenen Einkommensgruppen ansahen. Wenn in einer Region die Armutsgefährdung zunimmt, dann steigt das rechtsextreme Wählerpotenzial nämlich in allen Einkommensschichten, von arm bis reich. Im Detail sieht das so aus: Wenn das Armutsausmaß in einer Region um einen Prozentpunkt steigt, dann steigt die rechtsextreme Wahlpräferenz im einkommensschwächsten Fünftel der Bevölkerung um 1,41 Prozentpunkte und im nächsthöheren Fünftel um 1,46 Prozentpunkte. Doch auch in der Mitte und am oberen Ende der Einkommensskala wählen mehr Bürger rechtsextrem: Im dritten Fünftel steigt die Präferenz um 1,21 und im vierten um 0,86 Prozentpunkte. Selbst unter den einkommensstärksten 20 Prozent in der Region nimmt die Unterstützung für rechtsextreme Parteien zu, nämlich um 1,15 Prozentpunkte. Gleichzeitig nehme in allen Einkommensschichten die Zufriedenheit mit der Demokratie und den etablierten politischen Institutionen ab.
Aus diesen Ergebnissen lässt sich ableiten, dass es mit gut gemeinten Demonstrationen nicht getan ist. „Wer Populismus bekämpfen will, muss die wirtschaftlichen Probleme des Landes lösen“, sagt Ifo-Experte Florian Dorn, denn „eine wachsende wirtschaftliche Unsicherheit“könne „eine Gefahr für die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft sein“.
Die Studien-Ergebnisse zeigen, wie kompliziert die kommenden Jahre für die Bundesrepublik werden könnten. Denn um die Armutsgefährdung zu reduzieren, ist ein einkommensabsicherndes Sozialsystem notwendig, insbesondere im Bereich der gesetzlichen Rente, die durch den demografischen Wandel immer mehr unter Druck gerät. Dabei wird zukünftig insgesamt weniger Geld zum Umverteilen da sein. Schulden aufzunehmen, um im Sozialetat nicht sparen zu müssen, ist eine gefährliche Angelegenheit: Im vergangenen Jahr betrug der Anteil des Bundeshaushalts, der für Schuldzinsen ausgegeben werden musste, schon 8,2 Prozent, wie aus Daten des Bundesfinanzministeriums hervorgeht. Damit gibt die Bundesrepublik schon heute mehr Geld für die Schulden der Vergangenheit aus als für Bildung, Forschung, Wissenschaft und Kultur zusammen.
Gleichzeitig verändert der technologische Fortschritt nicht nur die Gesellschaft, sondern führt auch zu Disruptionen in der Arbeitswelt, die ein Auseinanderdriften von hohen und niedrigen Einkommen begünstigen. Zum Beispiel fallen durch die Automatisierung nicht nur Jobs weg, es entstehen auch neue – diese benötigen aber meist deutlich höhere Qualifikationen und werden entsprechend besser bezahlt. Diese Umwälzungen inmitten der Multikrise zu meistern, die die Bundesrepublik derzeit durchläuft, ist eine Mammutaufgabe.
Um auf dem Weg nicht zu viele Menschen zu verlieren, schlagen die Ifo-Forscher vor, in der Wirtschaftspolitik ein spezielles Augenmerk auf strukturschwache Regionen und die Probleme der Menschen, die dort leben, zu legen. „Von strukturellem und digitalem Wandel betroffene Menschen und Regionen müssen glaubhaft Chancen und Zukunftsaussichten geboten und mit wirksamen Maßnahmen in ihrer positiven wirtschaftlichen Entwicklung und Transformation unterstützt werden“, heißt es in der Studie.
Eine entscheidende Rolle käme „den Arbeitsmarktinstitutionen sowie dem Bildungs- und Ausbildungssystem“zu, damit „sich betroffene Personengruppen leichter an veränderte Rahmenbedingungen und strukturelle wirtschaftliche Umbrüche anpassen können“.