Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Die Drohung mit der Atombombe ist Putins letzter Trumpf“
Schriftsteller Wladimir Kaminer sieht Russlands Präsidenten in einer Sackgasse. Er wirft europäischen Politikern Unreife im Umgang mit Moskau vor.
Wie werden die Soldaten jetzt rekrutiert?
Im zweiten Jahr hatte die russische Administration die superkluge Methode ausgearbeitet, Menschen zu kaufen. Damals gab es tatsächlich mehr als genug Kandidaten, die bereit waren, ihr Leben für dieses große Geld zu riskieren oder besser gesagt, abzugeben. Denn da ihre Verträge automatisch verlängert werden, bis sie sterben, kommt keiner von ihnen lebend zurück. Aber dann gibt es immerhin richtig gutes Geld für die Familie. Dann ist ein Auto, die Ausbildung der Kinder oder sogar ein Haus drin. In den Dörfern der abgelegenen armen Regionen hat das eine Zeit lang gut funktioniert.
Auch in russischen Gefängnissen wurden Kämpfer angeworben.
Die Rekrutierung von Knackis war eine riesige Maschinerie. Russland hatte plötzlich 254.000 Gefangene weniger. Die Knackis sind die einzigen, die eine gute Chance haben, lebend aus dem Krieg zurückzukommen, weil sie meistens nur für sechs Monate kämpfen müssen. Das schlägt sich auch in der Kriminalitätsstatistik nieder. Sie ist um 100 Prozent gestiegen. Der Schwarzmarkt für Waffen floriert. Kein
Mensch kommt mit leeren Händen von der Front zurück.
Wird der Krieg auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch entschieden?
Der Krieg kann nur politisch, nicht militärisch entschieden werden.
Wann wird der Krieg enden?
Wann der Krieg zu Ende geht, liegt voll und ganz in den Händen der europäischen Politiker. Die Europäer müssen den russischen
Eliten, die heute noch hinter Putin stehen, eine Exit-Strategie anbieten. Aber das tun sie bislang nicht. Die Politiker der EU müssen endlich reifen. Es klingt so, als würde ich diese Menschen mit Gemüse vergleichen, aber eine gewisse Unreife im Umgang mit Russland ist doch tatsächlich nicht zu übersehen. Mittlerweile habe ich allerdings das Gefühl, dass sie endlich begreifen, worum es Putin geht.
Worum geht es Putin?
Es geht ihm sicher nicht um die Eroberung irgendwelcher ukrainischer Dörfer. Davon hat er im eigenen Land schon viel zu viele. Putin geht es um Wertschätzung, die Beziehung zwischen Russland und Europa und um eine neue Weltordnung.
Wie soll Europa auf Putins Wunsch nach einer neuen Weltordnung reagieren?
Es gibt drei Arten, auf aggressives Verhalten zu reagieren. Man kann zurückschlagen, weglaufen oder erstarren. Frösche erstarren in gefährlichen Situationen,
aber ich möchte mir Deutschland und Olaf Scholz nicht als einen vor Angst gelähmten Frosch vorstellen.
Ist Angststarre der Grund für Olaf Scholz’ Entscheidung, der Ukraine nicht die gewünschten Taurus-Marschflugkörper zu liefern?
Ich kann Scholz’ Gedankengang verstehen. Im Jahr 1914 hat eine Kette von unglücklichen strategischen Entscheidungen dazu geführt, dass alle in einem großen, sinnlosen Krieg landeten. Das wollen wir nicht. Aber weder die Taurus-Marschflugkörper noch irgendwelche anderen Raketen werden den weiteren Verlauf des Krieges wesentlich beeinflussen. Also müssen wir nicht über Raketen, sondern über eine politische Strategie gegenüber Russland sprechen.
Nicht alle europäischen Politiker scheinen vor Angst erstarrt zu sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat eine Entsendung von Nato-Bodentruppen nicht ausgeschlossen.
Macron betreibt eine Politik der Verunsicherung. Das hat er sich von Putin abgeguckt. Putin hat mehrfach gesagt: Wir wollen auf gar keinen Fall eine Atombombe zünden. Aber wenn wir dazu gezwungen werden, könnten die ersten Ziele Berlin, Paris und London sein. Macron droht nicht mit der Atombombe, aber er will Putin verunsichern und sich alle Varianten offenhalten.
Halten Sie Macrons Strategie für geschickt?
Sie ist auf jeden Fall geschickter als das, was Scholz macht, der mit deutscher Geradlinigkeit und Ehrlichkeit sagt, was er denkt. „Wir werden die Raketen nicht liefern.“Danke. Tschüss. Aufgelegt.
Glauben Sie, dass Putin über die europäische Uneinigkeit lacht?
Ich glaube nicht, dass Putin lacht. Er ist in eine Falle geraten. Putin hat sich etwas zur Lebensaufgabe gemacht, was er nicht bewältigen kann. Für das, was er vorhat, hat er weder die Soldaten noch das Geld. Putin hat den Kürzeren gezogen. Weil er keinen Rückwärts
Sie erklären den Deutschen seit dreißig Jahren Russland und die Russen. Fällt Ihnen das mittlerweile schwerer?
Ich fühle mich in der Verantwortung, das weiter zu tun. Ich habe jahrzehntelang erzählt, was für ein tolles Land Russland ist. Und jetzt hat dieses Land diesen schrecklichen Krieg angefangen, unter dem auch Millionen Russen leiden, der sie zu Flüchtlingen gemacht hat und Zehntausenden das Leben genommen hat. In diesem Krieg gibt es keine Gewinner. Putin zerstört nicht nur die Ukraine. Auch wenn in Russland keine Bomben fallen: Putin zerstört auch die Gehirne der Menschen in Russland. Wenn sie von der Staatspresse indoktriniert werden, dass die ganze Welt sie verabscheut, werden sie nur noch verbitterter.
Erleben Sie seit Russlands Überfall auf die Ukraine in Deutschland Russophobie?
Nein, das Gegenteil ist der Fall. Ich werde seitdem ständig von deutschen Putin-Verstehern angegriffen. Sie wollen mir vorschreiben, was ich sagen soll und was nicht. Nachdem ich vor Kurzem in einer TV-Gesprächsrunde sagte, dass die Russen einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer führen, hat mir eine Dame aus München, angeblich eine Institutsdirektorin, geschrieben, dass sie mich verklagen wird, weil ich über unsere netten, wunderbaren russischen Freunde doch nicht sagen dürfe, dass sie einen Vernichtungskrieg führen. Manchmal können die Putin-Versteher sehr böse werden.
„Gebrauchsanweisung für Nachbarn“von Martin Hyun und Wladimir Kaminer ist am 14. März im Piper Verlag erschienen.