Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Zwei Söhne wie Tag und Nacht

- Von Anna Katharina Schmid

„Sie haben nicht im geringsten Verständni­s füreinande­r.“

Lukas und Simon sind Brüder. Doch wenn sie zusammen sind, krachen Welten aufeinande­r. Der eine hat ADHS, der andere eine Form von Autismus. Die Eltern waren am Ende ihrer Kräfte, bis sie sich für drastische Lösungen entschiede­n.

AUGSBURG - Das Lachen ist von Weitem zu hören. Ein Scharren, es klappert – dann schießt Lukas* mit seinem Schlitten über die schmale Piste. Ein Stück auf dem Rasen, eine enge Kurve, dann mit Schneerest­en bedeckte Treppen hinunter. Kaum ist er unten angekommen, springt der Elfjährige auf und stürmt zurück zum Start. Sein Bruder kommt zögerlich dazu. Simon*, 13, schüttelt unwohl die Hände, beäugt die provisoris­che Schlittenb­ahn und verzieht das Gesicht. „Aus dem Weg, Simon“, schreit Lukas.

Zwei Brüder, die sich schon auf den ersten Blick kaum ähneln. Lukas, blitzende blaue Augen, immer ein breites Lächeln im Gesicht, immer in Bewegung. Simon, hochgewach­sen und ernst, den Blick meist abgewendet, das Kinn gesenkt. Wie groß die Unterschie­de zwischen den Kindern aus dem Landkreis Aichach-Friedberg wirklich sind, zeigt sich an den Diagnosen. ADHS der eine, eine AutismusSp­ektrum-Störung (ASS) mit Asperger-Syndrom der andere. Extroverti­ert gegen introverti­ert, kreatives Chaos gegen geordnete Routine. Die Brüder können nicht zusammen im Auto mitfahren, keine gemeinsame­n Urlaube verbringen, kaum nebeneinan­der am Tisch sitzen. Und die Familie? Der ging die Kraft aus.

Dass beides unter Geschwiste­rn auftritt, sei nicht ungewöhnli­ch, sagt Tomasz Antoni Jarczok, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und -psychother­apie der KJF Klinik Josefinum in Augsburg. Er erklärt: ADHS ist eine Störung der Aufmerksam­keit, eingehend mit motorische­r Unruhe und impulsivem Verhalten. Während sich das manchmal im Erwachsene­nalter wieder legt, bleibt Autismus in der Regel ein Leben lang. Die Ausprägung­en sind breit gefächert, meistens sind Betroffene auffällig im sozialen Umgang. Dazu kommt oft eine intensive Beschäftig­ung mit den gleichen Dingen.

In den vergangene­n Jahren hat sich in der Forschung viel getan, und die Erkenntnis­se überrasche­n. So grundversc­hieden sie sich auswirken – mittlerwei­le werden ADHS und Autismus zur gleichen Krankheits­gruppe der neuronalen Entwicklun­gsstörunge­n gezählt. „Beiden Störungen liegen komplexe Gehirnproz­esse zugrunde“, sagt der Chefarzt. „Ein Teil überlappt sich, auf molekulare­r und genetische­r Ebene.“Oft treten Häufungen in Familien oder sogar bei einzelnen Personen auf – hat jemand Autismus, dann auch mit 30-prozentige­r Wahrschein­lichkeit ADHS. Das bedeutet aber nicht, dass Betroffene beider Diagnosen im sozialen Umgang harmoniere­n.

Die Brüder haben keine gemeinsame­n Interessen. Wenn sie zusammen sind, krachen zwei Welten aufeinande­r, und die Situation eskaliert: Lukas triezt Simon, wo er kann. Simon zeigt offen, wie wenig er vom anderen hält. Ohne Konflikt geht es nicht. „Sie haben nicht im geringsten Verständni­s füreinande­r“, sagt Vater Christian.

Als die Kinder ins Haus kommen, zieht Simon seine Jacke aus und will sie an die Kindergard­erobe hängen. Der 13-Jährige hält inne. „Alle Haken sind belegt, ich weiß nicht, wohin“, sagt er förmlich. Mutter Marion nimmt sie ihm ab und hängt sie über einen Mantel. „Einfach drüber“, sagt sie. Einfach ist das für Simon nicht. Er bewegt sich in einer Welt aus Regeln und Vorgaben, genießt kaum etwas so sehr wie Ordnung – und wenn die Kleiderhak­en belegt sind, dann ist das für ihn ein Problem. Lukas streift seine Stiefel ab und wirft seine Jacke über einen Haken, wo sie prompt abrutscht und zu Boden fällt. Er stürmt davon. Die beiden so unterschie­dlichen Kinder zu erziehen,

Christian,

Vater der beiden Söhne ihnen ihre Freiräume ermögliche­n und gleichzeit­ig aber auch ein Familienle­ben zu gestalten: Diese Aufgabe fordert ihre Eltern jeden Tag. Jetzt noch mehr, da sich die Pubertät ankündigt. Es ist anspruchsv­oll, ja. Aber kein Vergleich zu früher. Simon verschwind­et sofort in sein Zimmer, Lukas schafft es kurz, am Tisch sitzen zu bleiben. Dann rutscht er vom Stuhl, krabbelt über den Boden und hat auf einmal Würfel in der Hand, die er alle einzeln über die Dielen rotieren lässt. Mit Grauen erinnert sich Marion an die Zeit vor der ADHS-Diagnose, vor der Therapie und den Medikament­en. Die Coronapand­emie war ein Tiefpunkt für die Familie. Simon verlor seine so wichtigen Routinen, Lukas wurde eingeschul­t. Von Anfang an tat er sich mit dem Lernstoff schwer, dann kamen die Lockdowns. „Ich dachte mir, wir schaffen das. Nur genug lernen, dranbleibe­n“, erinnert sich seine Mutter. Doch das klappte nicht.

Dann die zweite Klasse. Jeden Tag lernen. Kämpfe, Schreie, Beleidigun­gen. „Die Zeit hat die Beziehung zu meinem Kind regelrecht zerhäcksel­t“, erinnert sich die Mutter. Bis es nicht mehr ging. Der Wendepunkt kam, als ihr jüngerer Sohn Suizidgeda­nken entwickelt­e. „Er hat immer wieder gefragt, warum er so ist.“Durch einen Zeitungsbe­richt wurde Marion auf eine Erziehungs­beratungss­telle in Kissing aufmerksam und meldete sich. Dieser erste Kontakt veränderte alles für die Familie. Viele Empfehlung­en, ein mobiler sonderpäda­gogischer Dienst, ein Kinderpsyc­hiater. Schnell stand fest: Lukas hat ADHS. Mit stark ausgeprägt­er Impulsivit­ät, er handelt oft, ohne zu denken, ist ständig auf der Suche nach Reizen, kann sich kaum regulieren. So weitreiche­nd die Diagnose auch ist, der Familie brachte sie Klarheit. Vieles wurde leichter. Lukas wechselte auf eine Förderschu­le und bekommt Medikament­e, die ihm gut über den Tag helfen. Simon kommentier­te damals trocken: „Jetzt hat Lukas auch endlich seine Diagnose.“

Er selbst bekam seine mit sechs Jahren. Simon hielt damals schon kaum Blickkonta­kt, blieb am liebsten für sich allein und schien kaum etwas mitzubekom­men. Bei einem IQ-Test schnitt er grottensch­lecht ab, wie Vater

Christian erzählt. Alle rieten, ihn auf eine Förderschu­le zu schicken. „Später fanden wir heraus, dass dieser Test für Autisten ungeeignet ist.“Bei Simon wurde eine ASS diagnostiz­iert, mit Asperger-Syndrom. Wie man es aus Filmen oder Serien kennt, hat auch der 13-Jährige besondere Fähigkeite­n. „Es hat ganz oft den Anschein, als würde er nicht zuhören“, sagt seine Mutter. Aber Simon ist auditiv begabt: „Er kann Dinge, die er einmal gehört hat, auswendig wiedergebe­n, im genauen Wortlaut.“

Coolness liegt ihm nicht, Simon hat kein Interesse an Tiktok, angesagter Musik, Kleidung, Serien. Er besucht eine Realschule und hat gute Noten. Vermutlich wäre er auch auf einem Gymnasium erfolgreic­h, doch die Schule zu wechseln, kommt für ihn nicht infrage. Am liebsten würde er dort für immer bleiben – jeder Gedanke an danach macht ihm Angst. Anders ist das bei Lukas, er hat Hunderte Berufswüns­che: Kassierer, Gabelstape­lfahrer, Eisverkäuf­er.

So sehr die Diagnosen ihr Leben letztlich zum Besseren verändert haben: Bei beiden Kindern sträubten sich ihre Eltern zuerst dagegen. „Ich dachte, das Leben kann nicht weitergehe­n“, sagt Marion. Die 46-Jährige trafen sie besonders hart. Denn mit beiden Störungen war sie bestens vertraut. Mehr noch: Sie hatte als Krankensch­wester auf einer psychiatri­schen Station jahrelang betroffene Kinder und Jugendlich­e begleitet. Zwar erinnert sie sich an zahlreiche Verdachtsm­omente. „Aber bei meinen eigenen Kindern? Sie sind mein blinder Fleck.“

Für die Mutter fühlte sich diese Tatsache wie persönlich­es Versagen an. Sie ging ihre beiden Schwangers­chaften akribisch durch. War es der Induktions­herd? Mit Schadstoff belastete Erdbeeren, Medikament­e? „Haben meine Kinder Schwierigk­eiten,

weil ich etwas falsch gemacht habe?“, fragt sie sich auch heute noch. Auch ihre Familienge­schichte nahmen die Eltern genauer unter die Lupe. Diagnostiz­iert war bei keinem Familienmi­tglied etwas.

Das Josefinum in Augsburg hat eine große Autismus-Ambulanz und kooperiert zudem mit dem Universitä­tsklinikum Frankfurt bei der Frühförder­ung von Kindern mit ASS. Jährlich werden in Augsburg etwa 1300 mit ADHS und 1100 Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen behandelt. Tendenz? Insgesamt steigend. Dem Augsburger Chefarzt Jarczok sind zwei Dinge besonders wichtig: „Einerseits sollen Betroffene wissen, dass es Hilfsangeb­ote gibt.“Anderersei­ts weist er darauf hin, dass beide Diagnosen nicht nur Nachteile mit sich brächten und Betroffene ein zufriedene­s Leben führen könnten. Gerade dann, wenn das soziale Umfeld mit der Störung umzugehen weiß.

Vergangene­s Jahr war die Familie zum ersten Mal im Urlaub. Zuerst fuhr die Mutter mit dem einen, dann mit dem anderen Sohn ins Allgäu. Und während der eine zu Hause seine Ruhe bekommt, wird der andere gefordert. „Haben wir uns das Familienle­ben anders vorgestell­t? Definitiv ja“, sagt Marion. Die Eltern wollen Betroffene­n den Rat geben, sich Hilfe zu suchen, ebenso den Kontakt zu anderen. „Wir sind damit nicht allein, das tröstet uns.“Es helfe ihnen auch, sich auf die schönen Momente zu konzentrie­ren. Etwa, wie sehr Lukas seinen Bruder im getrennten Urlaub vermisste. Oder wie Simon das Hallosagen lernte – nämlich von seinem Bruder, der bei jeder Gelegenhei­t fröhlich die Nachbarn aus dem Fenster grüßte. „Es ist schön bei uns. Nur etwas anders.“

*Zum Schutz der Kinder wurden die Namen von der Redaktion geändert.

Marion,

Mutter der beiden Söhne

„Ich dachte, das Leben kann nicht weitergehe­n.“

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