Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Tatverdächtige in Moskau in Haft
Mit übel zugerichteten Gesichtern erscheinen sie vor Gericht – Russische Ermittler präsentieren angeblich Erfolge – Bericht über Folter
MOSKAU (dpa) -Mehrere Tage nach dem Terroranschlag bei Moskau mit mehr als 130 Toten richtet sich der Blick in Russland vor allem auf vier mittlerweile inhaftierte Tatverdächtige. Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte sich am Montag zunächst nicht zu den schweren Verletzungen der Männer äußern, die auf Folter durch russische Sicherheitskräfte hindeuten.
Bei dem Anschlag hatten vier Männer auf die Besucher der Crocus City Hall geschossen und das Gebäude mit Benzin in Brand gesetzt.
Nach den Worten von Kremlchef Wladimir Putin ist die Tat von Islamisten begangen worden. „Wir wissen, dass das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde, deren Ideologie die islamische Welt selbst seit Jahrhunderten bekämpft“, sagte Putin am Montagabend bei einer Veranstaltung zur Aufarbeitung des Anschlags vom Freitag, bei dem nach neuem Stand 139 Menschen ums Leben kamen. „Wir wissen nun, wessen Hände dieses Verbrechen gegen Russland und sein Volk verübten, jetzt wollen wir wissen, wer der Auftraggeber ist.“
Als die mutmaßlichen Täter am Sonntag von Polizisten und Geheimdienstlern ins Moskauer Basmanny-Gericht gebracht wurden, fielen sofort ihre schweren Verletzungen auf. Mehrere der Männer, die am vergangenen Freitag in der Konzerthalle Crocus City Hall um sich geschossen haben sollen, wiesen stark geschwollene Gesichter, Platzwunden und Blutergüsse auf. Einer hatte einen großen Verband am Ohr. Ein anderer konnte nicht mehr selbst laufen und verlor Berichten zufolge zwischenzeitlich das Bewusstsein. Er wurde auf einer Krankenliege in den Gerichtssaal gefahren, wo die Haftbefehle erlassen wurden.
Zuvor waren in sozialen Netzwerken Videos aufgetaucht, die zeigen sollen, dass die mutmaßlichen Attentäter gefoltert wurden und einem von ihnen gar ein Ohr abgeschnitten wurde.
Zu einem Journalisten, der auf die im Gerichtssaal sichtbaren Verletzungen und auf die Foltervideos hinwies, sagte Kremlsprecher Peskow lediglich: „Ich lasse diese Frage unbeantwortet.“
Leonid Wolkow, ein Vertrauter des kürzlich im Straf lager gestorbenen Kremlgegners Alexej Nawalny, zeigte sich hingegen überzeugt davon, dass die Aufnahmen die Öffentlichkeit auf Anweisung von ganz oben erreicht hätten.
Dass der Machtapparat seine eigene Grausamkeit so demonstrativ zur Schau stelle, sei neu, schrieb Wolkow im Nachrichtendienst Telegram. So solle wohl abgelenkt werden vom „Versagen der russischen Geheimdienste“vor dem Anschlag, zeigte er sich überzeugt.
Zu den Hintergründen des Angriffs auf die Crocus City Hall äußerte sich Peskow indes nicht.
Der IS-Propagandakanal Amak veröffentlichte als angeblichen Beweis, für den Angriff verantwortlich zu sein, ein Video, das die Attentäter am Anschlagsort zeigen soll. Zudem wurde ein Bild der angeblichen Attentäter mit unkenntlich gemachten Gesichtern gezeigt. Die mit Sturmgewehren, Pistolen und Sprengsätzen bewaffneten Kämpfer hätten Russland einen „schweren Schlag“versetzt, hieß es in dem Bekennerschreiben. Der Angriff habe „Tausenden Christen in einer Musikhalle“gegolten. Terrorismusexperten stuften das Schreiben als glaubwürdig ein.
Der IS bekämpft Anhänger des Christentums und betrachtet sie als Ungläubige. Seit einigen Jahren haben die Islamisten auch
Moskaus Politik auf dem Radar. In früheren Ansprachen warf die Terrorgruppe Russland etwa vor, muslimisches Blut vergossen zu haben. Insbesondere in Afghanistan wiegt das Erbe der sowjetischen Intervention vor 45 Jahren immer noch schwer.
Westliche Sicherheitsbehörden und Experten halten das Bekenntnis für glaubhaft und vermuten den IS-Ableger Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) hinter dem Anschlag.
Die russische Propaganda versucht indes, einen angeblichen Zusammenhang zur Ukraine herzustellen, gegen die Putin seit mehr als zwei Jahren einen brutalen Angriffskrieg führt. Beweise für diese Behauptung gibt es aber keine. Die ukrainische Führung hat die Vorwürfe zudem strikt zurückgewiesen. Angesichts der Anschuldigungen aus Moskau nannte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba den Kremlchef am Sonntag einen „pathologischen Lügner“.
In Krankenhäusern wurden am Montag noch immer 97 Verletzte behandelt, wie die Leiterin der Gesundheitsverwaltung im Gebiet Moskau, Ljudmila Bolatajewa, mitteilte. Die Patienten seien über Kliniken der Hauptstadt und des Moskauer Gebiets verteilt, ihre Verletzungen seien unterschiedlich schwer. Bei dem Anschlag waren nach letzter Zählung der Behörden 137 Menschen getötet und mehr als 180 verletzt worden. An einem improvisierten Gedenkort am Zaun des Geländes Crocus City legten weiterhin trauernde Menschen Blumen nieder.
Für Deutschland ergibt sich hingegen nach Bewertung der Sicherheitsbehörden keine veränderte Einschätzung zur islamistischen Bedrohung. Das sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin. „Diese war vorher schon hoch, was die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden gegen Terrorverdächtige des ISPK gezeigt haben.“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geht davon aus, dass die als Ableger des Islamischen Staats (IS) bekannte Gruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) den Anschlag zu verantworten hat, wie sie der „Süddeutschen Zeitung“sagte. Die ISPKTerrorgruppe hat ihren Ursprung in Afghanistan. Khorasan steht für eine historische Region in Zentralasien, die Teile von Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan sowie des Irans umfasste.