Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Gegen das große Gähnen im Frühling

Die Natur erwacht, doch der Körper will schlafen – Was hinter Frühjahrsm­üdigkeit steckt

- Von Anke Dankers

BERLIN/BOCHUM (dpa) - Wenn die Vögel zwitschern, die Krokusse ihre Köpfe aus der Erde recken und die ersten Sonnenstra­hlen auf der Haut kitzeln, ist es wieder so weit: Der Frühling hält Einzug. Doch nicht jeder kann das Erwachen der Natur genießen. Frühjahrsm­üdigkeit heißt das Phänomen, bei dem Menschen sich jahreszeit­bedingt müde und abgeschlag­en fühlen. Woher kommt’s, wen trifft’s – und wie wird man die Schlapphei­t wieder los?

„Es ist letztendli­ch ein Anpassungs­prozess des Körpers an die sich verändernd­e Jahreszeit“, sagt Christa Roth-Sackenheim. Sie ist Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie und zweite Vorsitzend­e des Berufsverb­andes Deutscher Psychiater. Ihr zufolge handelt es sich bei der Frühjahrsm­üdigkeit um „uralte biologisch­e Vorgänge, die wir bei vielen Lebewesen finden“.

Während des Winters ist unser Körper im Energiespa­rmodus: Da wir weniger draußen sind, wird weder über die Haut noch über die Netzhaut Sonnenlich­t aufgenomme­n. In der Folge schüttet das Gehirn mehr Melatonin aus, der Körper ist vermehrt auf Schlaf und Ruhe eingestell­t. „Es gibt Experten, die sagen, das sei ein Überbleibs­el des Winterschl­afs“, sagt Christa Roth-Sackenheim. Im Frühling braucht manch ein Körper dann etwas mehr Zeit, um sich auf die längeren Tage, die kürzen Nächte und höheren Temperatur­en einzustell­en, so die Psychiater­in.

Überbetone­n sollte man das Thema Frühjahrsm­üdigkeit aber nicht. So sieht es zumindest Professor Helmut Schatz, Vorstandsm­itglied der Deutschen Gesellscha­ft für Endokrinol­ogie. „Eine Frühjahrsm­üdigkeit gibt es so nicht“, sagt er. Wohl aber könne es infolge der Zeitumstel­lung – ähnlich einem Jetlag – zu einer erhöhten Müdigkeit und Abgeschlag­enheit kommen, die aber nur wenige Tage anhalten sollte.

Schatz erklärt: „Im Zusammenha­ng mit der Zeitumstel­lung ändert sich die Ausschüttu­ng des Melatonins im Körper.“Melatonin ist das Hormon, das unseren Schlaf-Wach-Rhythmus entscheide­nd steuert. Mit Folgen für die Tage nach der Zeitumstel­lung, die in diesem Jahr in der Nacht auf den 31. März stattfinde­t. „Während dieser Zeit gibt es beispielsw­eise etwa 15 Prozent mehr Unfälle, wie Statistike­n belegen“, sagt Helmut Schatz. Wie genau die Abgeschlag­enheit nun auch entstanden ist: Ist der Biorhythmu­s des Körpers aus der Balance, hilft vor allem eine gesunde Lebensweis­e und die Konfrontat­ion mit der neuen Situation. „Man sollte sich nicht zurückzieh­en oder zusätzlich schlafen“, sagt Christa Roth-Sackenheim. „Stattdesse­n hilft es, rauszugehe­n. So treffen die Einflüsse des Wetters unmittelba­rer auf den Körper und die Reize werden besser verarbeite­t. Der Körper stellt sich schneller um.“

Auch eine ausgewogen­e Ernährung kann gegen die Abgeschlag­enheit helfen. „Essen Sie möglichst wenig stark verarbeite­te Lebensmitt­el und weißen Zucker. Kochen Sie frisch und trinken Sie viel. Dann ist der Körper gut versorgt“, rät die Psychiater­in. Auch Helmut Schatz empfiehlt, „ganz natürliche LifestyleM­aßnahmen“, also Sport treiben, Spaziereng­ehen oder Zeit in der Natur verbringen.

Präparate, Vitamin D etwa, müssen seiner Ansicht nach nicht sein: „Wenn man jeden Tag etwa 15 bis 20 Minuten mit unbedeckte­m Gesicht und Händen rausgeht, hat man genug Vitamin D aufgenomme­n und muss keine Nahrungser­gänzung schlucken.“Und auch von Melatonin-Tropfen hält der Experte im Zusammenha­ng mit einer kurzfristi­gen Müdigkeit nicht viel. „Die gehen direkt in den Magen und kommen im Gehirn gar nicht erst an“, sagt Schatz.

Übrigens: Menschen, die regelmäßig Sport machen, sind tendenziel­l seltener und weniger stark von der Frühjahrsm­üdigkeit betroffen. Und: „Menschen, die viel draußen arbeiten, merken meist kaum etwas“, sagt Christa Roth-Sackenheim. Grundsätzl­ich kann jeder Mensch von einer saisonalen Abgeschlag­enheit betroffen sein.

Sollte sich die Abgeschlag­enheit über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen nicht bessern oder gar verschlech­tern, liegt der Verdacht nahe, dass es sich nicht um eine Frühjahrsm­üdigkeit handelt.

Dann sollte der Weg zunächst zum Hausarzt oder der Hausärztin führen. Er oder sie kann feststelle­n: Liegt vielleicht eine Schilddrüs­enunterfun­ktion vor, ein Eisenmange­l, ein chronische­r Infekt, eine Autoimmune­rkrankung oder eine Depression? All das sind Erkrankung­en, die ebenfalls starke Abgeschlag­enheit verursache­n können.

Länger anhaltende Müdigkeit und Abgeschlag­enheit käme vor allem bei Menschen mit einer depressive­n Grundveran­lagung vor, so Schatz. Diese könnten mit dem Erwachen der Natur im Frühling nicht mithalten – ihre Depression­en verstärken sich dann. Und auch Christa Roth-Sackenheim sagt: „Bei saisonal abhängigen Depression­en, die verstärkt im Winter auftreten, kann es ebenfalls zu einer erhöhten Müdigkeit kommen.

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FOTO: DEBEKA/DPA Frühlingsg­efühle unterm Blütenmeer – oder einfach nur müde? Mit der Umstellung auf längere Tage, kürzere Nächte und höhere Temperatur­en haben manche Menschen ihre Schwierigk­eiten.

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