Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Es wird Zeit für die Zeit
An Ostern wird die Uhr wieder umgestellt – Warum fünf Minuten relativ sind und der Mensch meist in Eile ist, aber nur selten entschleunigt
auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden.“
Google findet unter dem Begriff „Zeit“fast eine Milliarde Einträge. Unsere durchschnittliche Lebenserwartung steigt Jahr für Jahr um etwa einen Monat. Obwohl wir weniger schlafen: 40 Minuten weniger als 1960, zwei Stunden weniger als 1900. Wir müssten also Zeit gewonnen haben. Aber wer sagt schon: „Ich habe genug Zeit!“Wobei doch ein Sprichwort Stellung bezieht: „Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“In Seminaren zu ZeitManagement wird gepredigt, es gäbe keine Zeit-, sondern nur Prioritätsprobleme. Plastische Beispiele werden eingesetzt wie Köder: Der Seminarleiter lässt zehn ZehnEuro-Scheine zu Boden fallen und einen Schritt weiter einen Hunderter. Was ist zeitsparender, was ist effektiver? Zehn mal zehn aufheben oder einmal hundert? Keine Frage, aber würde man, durch eine Wüste gehend, unterwegs alle Angebote, etwas zu trinken, ausschlagen, nur weil man dadurch Zeit sparen könnte?
Wir haben vielleicht keine Zeit, aber wir können sie uns nehmen. Max Frisch kreierte den Begriff
„die verdünnte Zeit“. Er meinte eine beinahe hilflose Anhäufung von Erlebnissen und Ergebnissen, um möglichst viel reinzupacken in die vorhandene Zeit. Für das Hinterfragen nach Qualität bleibt in dieser dünnen Zeit jedoch keine Zeit. Deshalb sollte man sich manchmal einfach mit sich selbst verabreden. Zeitabläufe hinterfragen. Dinge selektieren. Denn Zeit ist doch nur ein Trick der Natur, die dafür sorgt, dass nicht alles auf einmal geschieht.
Wie schnell sind fünf Minuten? Ein Haar wächst in fünf Minuten genau 0,001157 Millimeter. Eine Schnecke, Typ Nacktschnecke, rast dagegen: Sie legt in fünf Minuten 17 Zentimeter zurück. Ein Brustschwimmer der Weltklasse kommt in der gleichen Zeit 450 Meter, ein Spitzenläufer sogar fast zwei Kilometer weit. Ein Kiebitz bringt es in dieser Zeit immerhin
Christus in China das Rad erfunden wurde, machte sich Ägyptens Pharao Ramses II. daran, die Zeit zu messen: zum Beispiel die Redezeit bei Audienzen oder die Arbeitszeit der Beamten. Er ließ Einheiten schaffen, von denen unser heutiger Ausdruck, die Zeit verfließt, abgeleitet ist. Die Wasserauslaufuhr war ein mit Wasser gefüllter Behälter mit einer Öffnung am Boden. Je mehr Wasser verf lossen war, desto mehr Zeit verstrich. Daraus soll sich nach und nach ein System entwickelt haben, das aus zwei mal zwölf Einheiten bestand, Tag und Nacht gliederte und letztlich die Grundlage für unsere heutigen Uhren schuf.
Aber im Lauf der Jahrhunderte hatte zunächst beinahe jede Region und jede Religion ein anderes Zeitsystem. In Babylon begann der Tag mit Sonnenaufgang, in England um Mittag, in Italien nach Sonnenuntergang. Erst Napoleon verfügte für Europa eine einheitliche Zeitmessung. Seitdem besteht jeder Tag aus 24 Stunden mit Beginn um Mitternacht. Durch die Erdbewegungen kam es aber automatisch zu Unregelmäßigkeiten. Wenn in Lissabon der Mond am höchsten stand, jährlichen Diskrepanzen der Erdbahn gemessen und Ungenauigkeiten zwischen der Atom- und der Erdzeit ausgeglichen werden. Schließlich muss die Zeit ja in der Zeit bleiben.
Nach zwölf Sekunden macht ein Kuss glücklich. Der Puls jagt auf 150, der Blutdruck steigt auf 180 und das Gehirn schüttet körpereigene Glückshormone aus. Aber wie oft am Tag küssen wir zwölf Sekunden am Stück? Ist uns unser tägliches Glücke keine mickrigen zwölf Sekunden wert? Knapp 30 Sekunden benötigt ein durchschnittlicher Computer, bis er gebootet ist, um uns dann weitere kostbare Zeit zu nehmen. Denn ein Computer ist ein Zeitschlucker. Nur wer alle Anwendungen genau auf Sinn und Zeitaufwand prüft, kann mit seiner Kiste effektiv arbeiten. Wer alles am PC verwaltet, verliert Zeit. Auch wenn es nicht so wahrgenommen wird.
Die beiden Beispiele verdeutlichen unseren Umgang mit Zeit. Der Kuss wird im Alltag als nebensächlich betrachtet, nicht zielgerichtet und deshalb vergessen wir ihn. Oder wir küssen nur f lüchtig – meist zu flüchtig. Der Computer beste Kunde? Eher nicht: Es werden die Freunde sein, die Verwandten, Frau und Kinder, vielleicht die Geliebte.
Was werden sie dann wohl sagen? Die Freunde sprechen von einem „echten Freund“. Die Verwandten erinnern an die guten alten Zeiten. Die Geliebte weint scheu und still. Und plötzlich sagt die Ehefrau: „Er wollte immer ein guter Vater sein ...“Er wollte. Aber er war es nicht. Zu viel Zeit in der Arbeit. Zu viel Zeit für den Chef. Zu viel Zeit für den besten Kunden. Vielleicht auch zu viel Zeit für die Geliebte. „Verlorene Zeit kommt nicht wieder in Ewigkeit“, sagt ein Sprichwort. Und „die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende“, meinte der weise Woody Allen.
Übrigens: Die durchschnittliche Lesezeit dieses Artikels beträgt sieben Minuten und fünf Sekunden.