Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Historische Heidenheimer
Der FCH schlägt als erster Aufsteiger seit 24 Jahren den FC Bayern – Pure Freude nach spektakulärer Aufholjagd
HEIDENHEIM - Im Vergleich zum FC Bayern München sieht jeder andere deutsche Fußballclub schlecht aus – zumindest, wenn es um die Anzahl der Pokale im Trophäenschrank geht. Unter anderem 33 Meisterschalen, 20 Replikate des DFB-Pokals und sechs ChampionsLeague-Henkelpotts stehen im vereinseigenen Museum. 120 Kilometer entfernt, im beschaulichen Heidenheim an der Brenz, fällt alles mindestens drei Nummern kleiner aus. Und dennoch sind sie auch auf der Ostalb stolz auf das Erreichte. Im kleinen Presseraum unterhalb der Haupttribüne der Voith-Arena auf dem Schlossberg prangen zwei große Bilder an der Wand: Das eine zeigt die Mannschaft des 1. FC Heidenheim der Saison 2013/14, die stolz mit dem Meisterpokal der 3. Liga posiert. Auf dem anderen ist das Team des Vorjahrs zu sehen, das mit einem dramatischen LastMinute-Sieg den Meistertitel der 2. Liga holte und damit den Aufstieg in die Bundesliga perfekt machte.
Es sind im Vergleich zum Münchner Branchenprimus vermeintlich kleine Erfolge, aber sie waren Grundvoraussetzung dafür, dass schon bald ein weiteres Foto an der Wand hängen könnte – eines vom 6. April 2024. Jenem Tag, der in die Vereinschronik eingehen wird, als der kleine 1. FC Heidenheim den scheinbar übermächtigen FC Bayern mit einer sensationellen Aufholjagd in die Knie zwang. „Wir haben für den Heidenheimer Fußball Geschichte geschrieben“, sagte der strahlende FCH-Trainer Frank Schmidt nach dem spektakulären 3:2 (0:2)-Sieg in eben jenem kleinen, veralteten Presseraum, der vermutlich noch nie so voll war, wie nach diesem historischen Sieg über den Rekordmeister. Es seien „unglaubliche Glücksgefühle“, hatte der Coach schon direkt nach Abpfiff gesagt und noch mal die Dimension des Erfolgs angesichts der Entwicklung vom Ober- zum Bundesligisten in knapp 20 Jahren, die er maßgeblich verantwortet hat, hervorgehoben: „Wenn man vor dem
Spiel vor dem Stadion stand, waren es schon Glücksgefühle, dass das Spiel überhaupt stattfindet.“
So wie Schmidt ging es dem gesamten Verein, der ganzen Stadt, ja einer ganzen Region. Allein die Tatsache, dass die Weltauswahl des FC Bayern zu einem Pflichtspiel auf die Ostalb kommt, war Anlass genug für ein Fußballfest. Die Hoffnung: „Heute alles wagen, die Bayern schlagen“, wie es die treuesten Anhänger auf der Osttribüne mit einem großen Banner vor Anpfiff ausdrückten.
Das hatte sich auch das Team um Kapitän Patrick Mainka vorgenommen. Doch wie gelähmt angesichts der Größe der Aufgabe kam der Außenseiter in den ersten 45 Minuten überhaupt nicht ins Spiel, konnte sich kaum aus der Umklammerung der Münchner lösen. Folgerichtig führten die Gäste zur Halbzeit dank der Tore von Harry Kane (38. Minute), der allein fast einen doppelt so hohen Marktwert hat wie der gesamte Heidenheimer Kader zusammen, und Serge Gnabry (45.) völlig verdient mit 2:0.
Doch es folgten 45 Minuten plus Nachspielzeit, die „niemand mehr vergessen wird, der heute im Stadion war oder das Spiel vor dem Fernseher
angeschaut hat“, wie Jan-Niklas Beste, Vorbereiter des zwischenzeitlichen 2:2-Ausgleichs meinte. Nachdem Schmidt dreifach gewechselt und komplett auf Offensive umgestellt hatte, stellten der zur Halbzeit eingewechselte Kevin Sessa und Tim Kleindienst (51.) innerhalb von zwei Minuten das Spiel auf den Kopf. Kleindienst mit seinem zweiten Treffer (79.) und der überragende Kevin Müller im Tor machten die Sensation perfekt. „Ein unfassbares Spiel, ganz FCH-like“, sagte Schmidt, der sich beim Jubel über den Führungstreffer einen Muskelfaserriss zuzog.
Schon in der Halbzeitpause waren die Emotionen aus ihm herausgebrochen – allerdings aus Ärger. Er sei sehr laut geworden angesichts des mutlosen Auftritts seiner Mannschaft. „Ich habe Schuhgröße 47, die habe ich heute auch benutzt.“Mit Erfolg. Wie schon mehrfach zuvor in dieser Saison – der FCH hat nun schon 15 Punkte nach Rückstand geholt – gelang es dem Coach, seine Mannschaft aufzuwecken und den nötigen Impuls für eine Aufholjagd zu geben. „Jeder hat in der Halbzeit gedacht, das Spiel ist vorbei. Das habe ich genutzt, um die Mannschaft noch mal anzuzünden – und es hat funktioniert“, sagte er. Was genau er seinen Profis in der Kabine gesagt hatte, wollte er nicht verraten. „Das ist FSK 18“, scherzte Schmidt, erklärte aber zumindest: „Ich habe gesagt, wir gehen jetzt all-in. Entweder schießen sie uns aus dem Stadion oder wir drehen das Spiel.“
Es folgte die zweite Variante. „Es war eine brutale Mentalitätsleistung“, sagte Doppelpacker Kleindienst. „Dass es gegen Bayern München so gelaufen ist, ist natürlich der Wahnsinn.“Einer für die Statistiken. Der 1. FC Heidenheim ist nun der erste Aufsteiger seit Energie Cottbus im Oktober 2000, der die Bayern im ersten BundesligaJahr schlagen kann, und der erste Liga-Neuling überhaupt, der einen 0:2-Rückstand gegen die Münchner Übermacht drehen konnte. Kein Wunder, dass Schmidt seinen Spielern den Partybefehl erteilte: „Wer heute nicht auf die Piste geht, den schmeißen wir raus“, sagte er lachend.
Auch er selbst und sein Trainerteam wollten den Abend nutzen, um den Erfolg zu genießen und die unglaubliche Reise des 1. FC Heidenheim nochmals Revue passieren zu lassen. An die Aufarbeitung der schwachen ersten Halbzeit wollte er sich erst nach einer schönen Nacht machen. Übrigens: Als kleiner Junge schlief Frank Schmidt einst in Bettwäsche von Bayern München. „Die gibt es schon lange nicht mehr. Ich bin mittlerweile 50 Jahre alt.“Und seit Samstag Bayern-Bezwinger.