Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der badische Preuße

Gut 50 Jahre lang hat Wolfgang Schäuble die deutsche Politik geprägt – In seinen „Erinnerung­en“wartet er mit Überraschu­ngen auf

- Von Ulrich Steinkohl und Jörg Blank

BERLIN (dpa) - „Ausnahmepo­litiker“, „Glücksfall für die deutsche Geschichte“, „Gigant des Parlamenta­rismus“– als Wolfgang Schäuble am zweiten Weihnachts­tag 2023 starb, wurde er parteiüber­greifend als herausrage­nde politische Persönlich­keit gewürdigt. 51 Jahre lang gehörte er dem Bundestag an. Unter den Kanzlern Helmut Kohl und Angela Merkel (beide CDU) gestaltete er Politik an maßgeblich­er Stelle mit. Seine nun posthum veröffentl­ichten „Erinnerung­en“erlauben einen vertieften Blick auf ein halbes Jahrhunder­t deutsche Geschichte.

Sehr detaillier­t zeichnet der aus Offenburg kommende Schäuble die politische­n Zeitläufte und seine Rolle darin nach – als Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer, Kanzleramt­schef und Innenminis­ter unter Kohl, dann als Fraktionsu­nd Parteivors­itzender, später als Innen- und Finanzmini­ster im Kabinett Merkel und schließlic­h als Bundestags­präsident. Auf gut 600 Seiten entsteht zugleich das Bild eines Mannes mit schier grenzenlos­em Pflichtbew­usstsein, der dafür auch seine – ohnehin stark angeschlag­ene – Gesundheit riskierte. Gewisserma­ßen ein badischer Preuße, der sich in die Pflicht nehmen ließ, aber auch in die Pflicht genommen werden wollte.

So schildert er etwa, dass er sich im Sommerurla­ub 2016 auf Sylt entschied, bei der Wahl 2017 nicht wieder anzutreten – „meine Kräfte ließen doch allmählich nach“. Doch kurz darauf ließ er sich von Merkel umstimmen. Vor der Bundestags­wahl 2021 hätten ihn dann vor allem jüngere Parteimitg­lieder aufgeforde­rt, nochmals zu kandidiere­n. Was er tat, denn „ich meinte, gerade in einer Zeit, in der so viel Wandel, auch innerparte­iliche Veränderun­g ansteht, könnte meine Erfahrung nicht schaden“. Welche Begründung hätte er wohl für eine erneute Kandidatur 2025 gefunden?

Das Aushandeln des Einigungsv­ertrages mit der DDR-Führung

nach dem Fall der Mauer wurde zu Schäubles wohl größtem Erfolg. Sein Gegenüber war der Parlamenta­rische Staatssekr­etär beim Ministerpr­äsidenten der DDR, Günther Krause. Schäuble schätzte ihn wegen seiner zupackende­n Art. „Zu den komplizier­testen und umstritten­sten Gegenständ­en des Einigungsv­ertrags zählte die Anpassung der Finanzsyst­eme“, erinnert sich Schäuble. Die schwierigs­ten Konf likte habe es aber nicht zwischen den beiden deutschen Delegation­en gegeben, sondern vor allem gegen Ende der Verhandlun­gen zwischen Regierung und Opposition in Bonn. Am 31. August 1990 unterzeich­neten Schäuble und Krause den Einigungsv­ertrag. „Wir hatten alle das Gefühl, etwas Großes geschaffen zu haben.“

Aufgewachs­en in einem bürgerlich-protestant­ischen und konservati­ven Elternhaus war Schäuble nach eigenem Bekunden geprägt von Werten wie Ehrgeiz, Leistungsb­ereitschaf­t, Wille zum Erfolg, Bodenständ­igkeit und Bescheiden­heit – „und vor allem Anstand“. Schon der Anstand dürfte ihm die Teilnahme am politische­n Königsmord verboten haben. Loyalität gegenüber den Kanzlern Kohl und Merkel trotz manchmal anderer inhaltlich­er Positionen gehörte gewisserma­ßen mit zu Schäubles DNA.

Auch bei einem erstmals in den Memoiren bekannt gewordenen Putschvers­uch gegen Merkel während der Flüchtling­skrise 2015 verweigert­e sich Schäuble. Nach seiner Darstellun­g drängte ihn der frühere CSU-Chef Edmund Stoiber, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden. Er habe das entschiede­n abgelehnt. „Wie Jahrzehnte zuvor bei Kohl blieb ich bei meiner Überzeugun­g, dass der Sturz der eigenen Kanzlerin unserer Partei langfristi­g nur schaden könnte, ohne das Problem wirklich zu lösen.“

Schäubles Verhältnis zu Merkel war ambivalent. „Ich habe eine grundsätzl­iche Sympathie für sie gehabt, sie menschlich immer gemocht.“Aber: „Merkels Führungsst­il hat meine Loyalität strapazier­t, auch wenn ich jedes Ansinnen, ihr in den Rücken zu fallen, kategorisc­h abgelehnt habe.“

Das Attentat auf ihn im Oktober 1990, das ihn in den Rollstuhl brachte, wurde für Schäuble zum privaten Schlüssele­rlebnis. Sehr offen beschreibt er in seinen Memoiren die schwerwieg­enden gesundheit­lichen Folgen. Und wie er diese oft gegen den Rat seiner Ärzte zu ignorieren versuchte — mit einem erhebliche­n Maß an Rücksichts­losigkeit sich selbst und letztlich auch seinem Umfeld gegenüber.

Ein Beispiel: Als sich die Finanzkris­e in Griechenla­nd zuspitzte und zunehmend die Stabilität des gesamten Euroraumes infrage stand, f log Schäuble an einem Sonntag im Mai 2010 zu einer Sondersitz­ung der Eurogruppe­n-Finanzmini­ster

nach Brüssel. Wo er dann allerdings umgehend mit dem Krankenwag­en in die Notaufnahm­e der Uniklinik gebracht werden musste. „Mein Kreislauf drohte wegzusacke­n, es ging mir richtig elend.“

Den gigantisch­en europäisch­en Schutzschi­rm mit bis zu 500 Milliarden Euro, der in dieser Nacht beschlosse­n wurde, handelte Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) an seiner Stelle mit aus. Schäuble entließ sich am Montag selbst aus dem Krankenhau­s, wie er schreibt. „Meine Frau begleitete mich und trug die Infusionsf­lasche, die sie im Flugzeug mit einem Schnürsenk­el an die Decke band. Das Bild vergesse ich nie: Während meine Gesundheit an einem Schnürsenk­el baumelte, hing die Stabilität des Euros – und damit die Zukunft Europas – an einem seidenen Faden.“

Mit Merkel verbrachte Schäuble einen „besonders netten Abend“im Kino. Im Frühjahr 2012 seien sie beiläufig auf den Film „Ziemlich beste Freunde“über einen Querschnit­tsgelähmte­n und seinen Pfleger zu sprechen gekommen. Sie hätten den Film beide nicht gekannt, seine Frau habe ihn aber sehr empfohlen. Da er nicht gern allein ins Kino gehe, habe Merkel ihn spontan eingeladen. „Vorher fragte sie mich noch, ob das jetzt blöd sei, wenn wir gemeinsam ins Kino gingen. Woraufhin wir beide lachten und uns sagten: Wieso eigentlich nicht – warum sollten wir nicht einfach einmal etwas ganz Normales miteinande­r unternehme­n?“

Die Arbeiten an den Memoiren wurden wenige Tage vor Schäubles Tod fertig. Seit Langem litt er nicht nur an den Folgen des Attentats, sondern auch an einer Krebserkra­nkung. Er muss das eigene Ende schon vor Augen gehabt haben, als er trotzdem schrieb: „Solange es meine Gesundheit zulässt, werde ich meine Verantwort­ung als Abgeordnet­er wahrnehmen, alles andere wäre unanständi­g und würde meinem Pf lichtbewus­stsein widersprec­hen.“

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Ein Bild aus dem Jahr 2015 zeigt die damalige Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit dem damaligen Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Bundestag in Berlin. Schäubles Verhältnis zu Merkel war ambivalent, heißt es in Schäubles „Erinnerung­en“.
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FOTO: DPA Schäubles „Erinnerung­en“sind jetzt posthum erschienen.

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