Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Attacke in der Notaufnahm­e

Gewalt gegen Pflegekräf­te nimmt zu – Kliniken setzen auf Deeskalati­onstrainin­gs

- Von Stefanie Järkel und Christoph Kölmel

STUTTGART (dpa) - Die betrunkene Frau ist mit der Polizei in die Notaufnahm­e des Klinikums Stuttgart gekommen. Sie sollte in Gewahrsam genommen werden, wie Theresa Holz, stellvertr­etende Pf legerische Leitung in der Notaufnahm­e, erzählt. „Sie war bewusstlos oder hat erst mal nicht reagiert auf Ansprache“, sagt die 30-Jährige im blauen Kittel und weißer Hose. „Dann habe ich sie halt berührt und ihren Namen etwas lauter gesagt, und dann hat sie mir ins Gesicht geschlagen.“Geschockt sei sie gewesen, sagt Holz. Verletzung­en habe sie keine gehabt – Anzeige habe sie nicht erstattet, weil die Frau wohl unter Drogeneinf­luss gestanden habe. Aber im klinikinte­rnen Meldesyste­m habe sie den Vorfall gemeldet.

Dort sind laut Krankenhau­s im vergangene­n Jahr 245 Meldungen von Mitarbeite­rn eingegange­n, die verbal oder körperlich von Patienten oder Angehörige­n angegriffe­n wurden. „Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber früheren Jahren“, sagt Jan Steffen Jürgensen, Vorstandsv­orsitzende­r des Klinikums, der größten Klinik in Baden-Württember­g. „So lag die Zahl bis 2017 noch im zweistelli­gen Bereich.“

Eine Auswertung des Landeskrim­inalamtes der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik zeigt ebenfalls eine deutliche Steigerung bei tätlichen Angriffen im Krankenhau­s. So waren noch im Jahr 2021 89 Fälle von Körperverl­etzung und tätlichen Angriffen angezeigt worden – im Jahr 2023 waren es 126.

Als Gründe für die deutliche Steigerung in seinem Haus sieht Jürgensen einerseits eine größere Sensibilis­ierung der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. „Zu beobachten ist zudem eine seit Jahren steigende Gewaltbere­itschaft und Aggression bei Patienten und Angehörige­n, teilweise unter Alkoholund Drogeneinf luss“, sagt der Klinikchef. „Die Akzeptanz von längeren Wartezeite­n, insbesonde­re in der Notaufnahm­e, nimmt ab. Hier müssen Mitarbeite­nde priorisier­en und schwersowi­e lebensgefä­hrlich erkrankte Patienten zuerst behandeln, was bei leichter erkrankten Patienten oft auf Unverständ­nis stößt.“

Auch Holz sagt, dass Übergriffe eher von Menschen ausgingen, die medizinisc­h gesehen nicht in Not seien. „Jemand, der wirklich akute Hilfe benötigt, sich in kritischem Zustand befindet, wird hier sofort versorgt. Da entstehen auch gar keine Konf likte.“

Der Vorfall mit der Frau, die ihr ins Gesicht geschlagen hat, hat Holz vorsichtig­er werden lassen. „So ein Erlebnis macht einen skeptische­r, würde ich sagen. Man geht nicht mehr so offen erst mal auf jemanden zu.“Doch die junge Frau betont auch, dass verbale Übergriffe deutlich häufiger vorkämen als körperlich­e. Mitarbeite­r würden täglich angegangen, etwa als rassistisc­h beschimpft oder unter Druck gesetzt. Es fielen Sätze wie: „Wollen Sie, dass meine Mutter stirbt?“, erzählt Holz. „Das sind in meinen Augen tatsächlic­h auch die Dinge, die bei uns viel mehr hängen bleiben.“Das Klinikum bietet Deeskalati­onstrainin­gs, bei denen die Mitarbeite­r Schritt für Schritt lernen, Situatione­n zu entschärfe­n: Was man zu Betroffene­n sagt, wann man sich Hilfe holt, dass man die Tür zu einem Behandlung­sraum offen lässt – um auch gehört zu werden, wenn es notwendig ist, wie Holz erzählt. Nachts habe das Klinikum auch einen Sicherheit­sdienst. Die Polizei wird trotzdem regelmäßig gerufen.

Nach Übergriffe­n bietet ein Kriseninte­rventionst­eam psychologi­sche Unterstütz­ung, im Team selbst sind Mediatoren Ansprechpa­rtner. Die Baden-Württember­gische Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG) verweist auf ähnliche Probleme bei anderen Mitglieder­n – und ähnliche Maßnahmen. „Zum Schutz des Personals haben viele Kliniken Notruf knöpfe mit direkter Verbindung zur Polizei installier­t und einen Sicherheit­sdienst beauftragt. Teilweise wurden auch bauliche Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel der Einbau von Zugangssch­leusen in der Notaufnahm­e“, heißt es weiter. „Auch profession­elle Deeskalati­ons-, Eigensiche­rungsund Selbstvert­eidigungst­rainings sind wichtige Bausteine zum Schutz des Personals. Diese werden in vielen Kliniken angeboten und vom Personal auch nachgefrag­t.“

Mark Dominik Alscher, Geschäftsf­ührer des Stuttgarte­r Robert-Bosch-Krankenhau­ses, sieht die verstärkte Zuwanderun­g der vergangene­n Jahre als einen Grund für die Zunahme an Konf likten. Es kämen Menschen mit ganz unterschie­dlichen kulturelle­n Hintergrün­den in das Krankenhau­s, sagt er. „Die Menschen sind anders sozialisie­rt. Es ist ihnen kulturell gar nicht geläufig, dass es einen Hausarzt gibt. Viele sind es gewohnt aus ihrem Kulturkrei­s, bei akuten medizinisc­hen Themen direkt ins Krankenhau­s zu gehen.“Zudem sei es für die Mitarbeite­r manchmal schwierig, sich verständli­ch zu machen. Auch das Robert-BoschKrank­enhaus setzt auf Deeskalati­onstrainin­gs für die Mitarbeite­r und einen Wachdienst.

Um die Situation nachhaltig zu verbessern, fordert Alscher unter anderem „eine bessere Verzahnung von ambulant und stationär“: Aufgrund des Fachkräfte­mangels sei es wichtig, in Krankenhäu­sern auch ambulante Angebote und etwa auf dem Land verstärkt Ärztezentr­en zu schaffen. So ließen sich die Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser entlasten und das Personal f lexibler einsetzen.

Jürgensen vom Klinikum Stuttgart findet es wichtig, die Erreichbar­keit von Hausärzten zu verbessern, Praxen etwa mit telemedizi­nischen Angeboten zu stärken und mehr Studienplä­tze für Mediziner zu schaffen. „Sinnvoll finden wir auch die Zusammenle­gung – die diskutiert wird – der Nummern 112, 116117, mit einer qualifizie­rten Ersteinsch­ätzung für alle akuten Hilfsgesuc­he, die etwas kanalisier­en und bahnen kann.“Damit letztlich nur Menschen ins Krankenhau­s kämen, die dort hinmüssten – „und die Situation hier etwas entspannte­r wird“.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Theresa Holz (re.), Pflegefach­kraft und stellvertr­etende Stationsle­itung der Interdiszi­plinären Notaufnahm­e des Klinikums Stuttgart, sitzt mit einer Kollegin am Empfang der Notaufnahm­e.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Theresa Holz (re.), Pflegefach­kraft und stellvertr­etende Stationsle­itung der Interdiszi­plinären Notaufnahm­e des Klinikums Stuttgart, sitzt mit einer Kollegin am Empfang der Notaufnahm­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany