Schwäbische Zeitung (Wangen)

Festplatte­n lösen Zettelkäst­en ab

Das Marbacher Literatura­rchiv im digitalen Wandel

- Von Roland Böhm

MARBACH AM NECKAR (dpa) - Was hätte wohl ein Schiller heute seiner Nachwelt hinterlass­en? Mehrere Laptops? Unzählige ungeordnet­e EMails? Selfies? Solche Dinge machen das Sammeln fürs Deutsche Literatura­rchiv (DLA) in Marbach nicht einfacher.

Neun Festplatte­n, 648 Disketten, 100 CD-Roms – die 1,1 Terabyte umfassende­n rund 1,7 Millionen Dateien, die mit Friedrich Kittlers Nachlass ins DLA nach Marbach kamen, sprengen dort alles bisher digital Dagewesene. Wie bislang keiner hatte der 2011 gestorbene Literaturw­issenschaf­tler und Medientheo­retiker seine Gedanken digital fixiert. Datei für Datei sichert EDV-Experte Heinz Werner Kramski nun den Nachlass und versucht der Datenflut inklusive Filmaufnah­men, aufgezeich­neter Interviews oder Fotografie­n Stück um Stück Herr zu werden. Dabei gilt für das digitale Literatura­rchiv die Maxime: Erst wird alles geklont – aufgearbei­tet und für die Forschung sortiert wird dann nur die Kopie.

Zu groß sei die Gefahr, beim Bearbeiten doch etwas unwiederbr­inglich zu löschen, erzählt Roland Kamzelak, DLA-Vize. Auf der anderen Seite biete das Digitale aber auch bisher nicht gekannte Chancen: Was früher im Papierkorb landete, war weg. Heute ist es möglich, dass der Inhalt digitaler Papierkörb­e doch noch vorhanden ist und gesichert werden kann. Archivleit­er Ulrich von Bülow: „Auf Laptops finden sich manchmal Dinge, von denen die Autoren dachten, sie hätten sie für immer gelöscht.“

„Wenn ein Laptop von Botho Strauß voll war, nahm er den nächsten“, erklärt von Bülow so manche Datenflut. Vieles auch von anderen namhaften Autoren sei zunächst mal nur gesichert. Der Nachlass des Dramatiker­s Thomas Strittmatt­er („Gesualdo“), gestorben 1995 mit nur 33 Jahren, ist seines Wissens nach der einzige bereits komplett aufgearbei­tete eines deutschen Autors.

Mehr Papier denn je

Strittmatt­ers Eltern schenkten Marbach mit dem literarisc­hen Nachlass des frühen Computerfa­ns einen Atari-Rechner, einen Laptop und gut 40 Disketten. Speicherpl­atz sei kein Problem, betont der Archivleit­er. „Problemati­sch sind aber Dateiforma­te, die veraltet sind.“Mit modernen PCs seien diverse Formate nicht mehr lesbar. Dann schlägt die Stunde von Freaks, die alte Hard- und Software sammeln. Weiteres Problem ist die Entmagneti­sierung: Sie schreitet schneller voran als der Zerfall von Papier. Ein Schiller-Gedanke auf Diskette wäre wohl längst verloren, sein Papier ist noch erhalten.

Marbach sammelt, was sich auf und neben Schreibtis­chen von Autoren findet – aber das ist nicht zwangsläuf­ig weniger Papier, wie man vermuten könnte. Im Gegenteil: „Wir haben jetzt eher mehr Papier als weniger, auch bei Schriftste­llern, die mit Computer schreiben“, sagt von Bülow. Früher hatten die Autoren maximal einen Durchschla­g von Briefen. Jedes Schiller-Wort auf Papier war ein Unikat. Heute ist der Ausdruck einer E-Mail schnell abgeheftet.

Vieles geht trotzdem verloren. Wobei die Marbacher Experten nicht von Verlust sprechen, schließlic­h sei manches, was heute etwa über WhatsApp kommunizie­rt wird, früher telefonisc­h abgesproch­en worden und damit genauso weg. Zugleich entstehen neue Literaturf­ormen, etwa mit 140 Zeichen auf Twitter. Für Kamzelak gehören Smartphone­s und ihr womöglich geheimnisv­oller Inhalt inzwischen längst dazu: „Smartphone­s sind kleine Computer. Im Zweifelsfa­ll würde ich sie einem Nachlass immer zurechnen.“Sogar ein Selfie gibt es schon in Marbach: Peter Handke fotografie­rte sich mal in einem Autospiege­l.

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FOTO: DPA Das Literatura­rchiv in Marbach beherbergt nicht nur Zettel und Bücher von Schriftste­llern, sondern auch deren verschiede­nste digitale Formen der Datenspeic­herung – darunter jede Menge Disketten.

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