Aus dem Tritt
Der Traum von der großen Karriere ist für Deutschlands größtes Rundfahrertalent Dominik Nerz geplatzt – Er hatte sich zu viel zugemutet
RAVENSBURG/ERMATINGEN - Vielleicht hätte ja alles noch gut werden können in diesem verflixten Jahr. Aber dann kam dieser Samstag, der 13. Juni 2015. Danach wurde nichts mehr gut im Leben von Dominik Nerz, aber das ahnte der Wangener Radprofi damals noch nicht. Das Internetportal „Radsport-News.com“veröffentlichte am Abend folgende Meldung: „Dominik Nerz hat sich bei einem Sturz auf der Königsetappe des 67. Critérium du Dauphiné eine Prellung am Knie sowie Hautabschürfungen zugezogen. Wie sein Bora-Argon-18-Team am Abend bekannt gab, ist die Tour-Teilnahme des 25-jährigen Allgäuers allerdings nicht gefährdet.
Dominik Nerz hat die Tour dann tatsächlich in Angriff genommen – es war seine zweite große Fehlentscheidung 2015, dem Jahr, das er in Ermatingen am Telefon als „mein persönliches Horror- und Unglücksjahr mit sehr viel Pech“bezeichnet. Nerz ist nun kein Radprofi mehr, im Oktober hat er seine Karriere für beendet erklärt – auf Anraten der Ärzte.
Das Unglück bahnt sich an
Das Unglück hatte sich früh in der Saison 2015 angebahnt. In einem Interview vor Beginn der DauphinéRundfahrt hatte Nerz erklärt, dass schon das Frühjahr „alles andere als optimal“gelaufen war. „Im Trainingslager zu Saisonbeginn wurde ich krank und bin anschließend zu früh wieder ins Training eingestiegen und nie wirklich in Tritt gekommen.“
Jetzt aber scheint alles wieder okay. Nerz wähnt sich auf dem richtigen Weg, die Form stimmt. „Ich stand voll im Saft, war hoch motiviert.“Jetzt war es an der Zeit, seinem neuen Team zu beweisen, dass da noch mehr in ihm steckte als dieser 14. Platz bei der Spanien-Rundfahrt, den er 2013 noch für das BMC-Team herausgefahren hatte und der seine Einstufung als hoffnungsvollstes deutsches Rundfahrertalent seit Jan Ullrich bestätigt hatte.
Ein verhängnisvoller Fehler
Es ist die vorletzte Etappe der Dauphiné, die Spitzengruppe fährt drei Minuten vor dem Feld auf einer Abfahrt in einen unbeleuchteten Tunnel ein, darunter Nerz, im Kopf schon die beiden letzten Anstiege, den Traum vom Etappensieg. Der neue Bora-Kapitän ist unter Druck, drei Teamkollegen sind besser platziert im Gesamtklassement, er will, er muss endlich etwas zeigen, fährt aggressiv. Dann wird es dunkel. Nerz hat eine Kurve nicht erkannt, knallt mit dem Kopf voll gegen die Tunnelwand, wie der demolierte Helm verrät. Das Rennen ist zu Ende für ihn, Helfer bringen ihn ins Krankenhaus. „Ich hatte ’ne ordentliche Gehirnerschütterung.“Aber Gott sei Dank: Es ist nichts gebrochen, und so einfach will er seinen großen Traum vom großen Auftritt beim größten Rennen in Frankreich nicht aufgeben. Ein verhängnisvoller Fehler.
Heute weiß Nerz: „Ich hätte eher auf die Signale meines Körpers hören und nie bei der Tour starten sollen.“So wird alles noch schlimmer, das Pech klebt an ihm wie Kaugummi in der Sonne. Beim Prolog erreicht er entkräftet das Ziel, weil ihm drei Kilometer vor dem Ziel der Zeitfahraufbau gebrochen ist. Im Ziel steigt Nerz „über den Lenker“ab – ein Holm ist ihm runtergefallen und in die Speichen geraten. Es folgt der verheerende Massensturz auf der 3. Etappe, in den er ebenfalls verwickelt ist. Nerz quält sich mit einer Rippenprellung über die Runden, aber auf der 11. Etappe ist Endstation, wegen Magen-Darm-Problemen. „Schüttelfrost, Durchfall – da war natürlich alles vorbei.“
Spätestens jetzt wäre eine längere Regenerationsphase eine gute Idee gewesen, „um überhaupt wieder zu Kräften zu kommen“. Aber vielleicht war es eh schon zu spät. Vielleicht hatte der Kopf bei den diversen Stürzen da schon zu viel abbekommen. Die Enttäuschung nach der Tour war riesengroß gewesen. „Ich hatte das Gefühl, viele Leute enttäuscht zu haben und wollte schnell aufs Rad zurück.“Der nächste Fehler.
Nerz quält sich durch die Saison, am Ende, als der Winter kommt, sieht er wieder Licht. „Wenn du da zur Ruhe kommst“, habe er gedacht, „kann’s wieder werden.“Also hat er trainiert wie immer. Aber irgendetwas ist anders, irgendetwas passt nicht mehr, er kommt nicht mehr an seine Reserven. „Die Regeneration hat nicht mehr eingesetzt. Es war frustrierend zu sehen, dass nicht wirklich was rumkommt beim Training.“
Immer über der Leistungsgrenze
So geht er in die Saison 2016 – und muss erfahren, dass für seinen geschwächten Körper kein Platz mehr ist im Hochleistungssport. „So wie’s früher war, funktionierte es nicht mehr“, erzählt Nerz und räsoniert über die Unerbittlichkeit der Konkurrenz, darüber, dass man sich in diesem „Business“keine langen Auszeiten erlauben kann, dass das Niveau inzwischen überall wahnsinnig hoch ist und die Rennen immer extrem hart sind, „über der Leistungsgrenze“, selbst die kleinen.
Es beginnt die Odyssee durch die Arztpraxen, und all die Untersuchungsbefunde laufen auf eines hinaus: Dominik Nerz muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass er nicht mehr auf dem Niveau fahren kann. Er hat sich schließlich überzeugen lassen, überzeugen lassen müssen, dass es vorbei ist. Vor der Tour 2016 hatte es noch geheißen, irgendetwas mit Nerz’ Werten stimme nicht. „Radsport-News.com“meldete: „… konnte sich diesmal für die Tour-Auswahl nicht empfehlen“. Drei Monate später, nach einer letzten Untersuchung in der Charité Berlin, verkündet Nerz gemeinsam mit seinem Arbeitgeber Bora-Argon 18 das Ende: „Es ist wirklich hart für mich, und der Abschied vom Profisport wird mir nicht leichtfallen. Aber nach mehreren medizinischen Untersuchungen ist klar, dass mir keine andere Wahl bleibt.“
Leistungssport ade, der Traum von der großen Karriere geplatzt. Schlimmer noch, Nerz ist nicht mehr der Alte, ins Detail möchte er nicht gehen: zu privat. So viel nur: „Kein Mensch kann mir sagen, wie lange es dauern wird, bis ich wieder vollständig genesen bin.“
Jetzt sitzt Dominik Nerz am Schweizer Bodenseeufer in seiner Wohnung, ohne Perspektive, gesundheitlich schwer angeschlagen, an Radfahren ist nicht mehr zu denken. „Mein ganzes letztes Leben ist weggebrochen“, hat er kürzlich geklagt. Teamkollegen wie der Ravensburger Emanuel Buchmann bestimmen jetzt die Schlagzeilen, dürfen sich auf eine spannende Saison in einer sensationell verstärkten Mannschaft freuen, in der jetzt der Weltmeister persönlich fährt: der Slowake Peter Sagan.
Erst 27 Jahre alt
Nerz hat andere Sorgen; er weiß noch nicht, ob er in Ermatingen bleiben soll, ob er wieder zurück soll nach Wangen zu den Eltern und Freunden, was er anfangen soll mit seinem Leben.
Er ist erst 27 Jahre alt, zehn Jahre noch hätte er mindestens fahren können. Radfahrer werden erst in ihren 30ern richtig gut, das Beste hätte noch kommen sollen. Hätte, könnte – so was darf er nicht an sich ranlassen. „Über das darf ich mir keine Gedanken machen, sonst werde ich nicht mehr glücklich.“Jetzt muss ein neues Leben her.