Flucht aus der Lagunenstadt
Venedig ist derart überlaufen, dass die Einheimischen wegziehen
- Rettet Euch, die Touristen kommen: Die italienische Lagunenstadt Venedig wird jedes Jahr von 30 Millionen Touristen überrannt. Einheimische suchen das Weite, denn der Bürgermeister will, dass es noch mehr werden – schließlich bringen sie der Stadt Geld.
Jeden Morgen wenn Matteo Scarron seinen ersten Espresso am Tag trinken geht, am malerischen Campo dei Ss. Apostoli, nicht weit von der Rialto-Brücke entfernt, fragt er sich, wie lange es seine Lieblingskaffeebar noch geben wird.
„Hier geht das Gerücht, dass ein ausländischer Investor sämtliche Gebäude aufkaufen und ein neues Luxushotel daraus machen wird“, berichtet der Buchhändler. „Und was können wir schon gegen einen superreichen Investor unternehmen, der sicherlich beim Bürgermeister offene Ohren findet?“
Bürgermeister von Venedig ist Luigi Brugnaro, den Buchhändler Scarron nur verächtlich „unseren Lagunen-Trump“nennt. Wie der kommende US-Präsident, erklärt Scarron, sei Brugnaro ein Schwätzer. Zudem habe er nur die Geldmache in Venedig im Sinn – „um die Hotelierund Gaststättenclique zu bedienen, die ihn ins Amt gewählt hat“.
Eine Kritik, die nicht unbegründet ist. Ein Spaziergang durch Venedig macht jedem aufmerksamen Besucher deutlich, was gemeint ist. Wer mit dem Zug am Hauptbahnhof Santa Lucia am Canal Grande ankommt, bewegt sich in der Regel an der Rialto-Brücke vorbei zum Markusplatz, dem Hauptanziehungspunkt aller Venedigbesucher.
Kleine Lebensmittelläden, Schuhmacher, Schneidereien, traditionelle Cafés und Papierwarenläden schließen und machen Imbissen und Billigkleidungsläden Platz. „Das alles verändert radikal das Bild dieser Stadt“, schimpft Francesco De Santin von der Bürgerinitiative „Fattoria Urbana Diffusa“, kurz FUD. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die, so De Santin, „touristisch überbevölkerten Sestrieri, wie wir unsere Stadtviertel nennen, wieder für die Einheimischen lebbar zu machen“.
Ein sehr schwieriges Unterfangen, denn zunehmend wird Venedig touristischer. Mit dem Segen des Bürgermeisters. Und nicht zuletzt auch wegen der zunehmenden Entvölkerung der in der Spätantike, wahrscheinlich im 6. Jahrhundert, gegründeten Lagunenstadt.
1955 lebten noch rund 170 000 Menschen fest in Venedig. Heute sind es knapp über 55 000. Tendenz fallend. Verschiedene Bürgermeister haben versucht, den Abwanderungstrend zu verlangsamen, aber erfolglos. Der amtierende Bürgermeister, ein parteiloser Selfmademan, wird von links bis rechts dafür kritisiert, dass er aus Venedig eine Art Disneyland auf dem Wasser machen will.
Sicherlich gibt es noch Viertel, die nur wenig von Touristen frequentiert werden, wie etwa die Giudecca im Süden und Cannaregio im Norden. Beide sind immer noch recht romantische und stille Stadtteile, die noch einen guten Teil ihres ursprünglichen Charmes bewahrt haben. Doch auch dort vollziehen sich langsam aber sicher Veränderungen. Traditionelle Geschäfte schließen, trendige Lokale öffnen ihre Pforten, Bed & Breakfast-Häuser und Hotels schießen wie Pilze aus dem Boden, immer mit dem Hinweis auf das „noch stille, untouristische Venedig“.
„Mit Stadtteilbasaren und neuen kleinen Buchhandlungen, mit neuen Lebensmittelläden und Ähnlichem wollen wir unsere Stadt für die Einwohner wieder attraktiver machen“, erklärt Claudio Moretti von der Bürgerinitiative FUD. Aber auch er macht sich keine Illusionen. „Hier bleiben vor allem Leute mit Geld, die sich die immer teurer werdenden Lebenshaltungskosten leisten können.“Doch auch die betuchten Venedigbewohner ziehen fort.
Je mehr Touristen anreisen, um so unattraktiver wird die eigentlich zauberhafte Stadt. Das ergaben Umfragen unter Venedigbesuchern, die mehrheitlich erklärten, dass alle Straßen und Gassen viel zu voll mit Menschen sind.
Den Charme Venedigs retten
Es gibt Überlegungen, den Zugang in die Stadt zu reglementieren. „Eine sicherlich unpopuläre, aber wahrscheinlich die einzige Methode um den Charme Venedigs zu retten“, so der bekannte Venezianer und Philosoph Massimo Cacciari. Doch der amtierende Bürgermeister will, dass noch mehr Menschen kommen. Für Brugnaro können es gar nicht genug sein.
So sprach er sich, gegen den Protest zahlreicher Bürger, des Kulturministeriums in Rom und der Unesco, dafür aus, dass auch weiterhin die riesigen Kreuzfahrtschiffe in der Stadt selbst ankern dürfen. Die Idee, diese Megaschiffe etwas weiter entfernt vom Zentrum ankern zu lassen, lehnte er entschieden ab. Mit dem Hinweis darauf, dass „die Touristen möglichst schnell nach Venedig gelangen, sich vergnügen und ihr Geld bei uns lassen“.