Schwäbische Zeitung (Wangen)

Flucht aus der Lagunensta­dt

Venedig ist derart überlaufen, dass die Einheimisc­hen wegziehen

- Von Thomas Migge

- Rettet Euch, die Touristen kommen: Die italienisc­he Lagunensta­dt Venedig wird jedes Jahr von 30 Millionen Touristen überrannt. Einheimisc­he suchen das Weite, denn der Bürgermeis­ter will, dass es noch mehr werden – schließlic­h bringen sie der Stadt Geld.

Jeden Morgen wenn Matteo Scarron seinen ersten Espresso am Tag trinken geht, am malerische­n Campo dei Ss. Apostoli, nicht weit von der Rialto-Brücke entfernt, fragt er sich, wie lange es seine Lieblingsk­affeebar noch geben wird.

„Hier geht das Gerücht, dass ein ausländisc­her Investor sämtliche Gebäude aufkaufen und ein neues Luxushotel daraus machen wird“, berichtet der Buchhändle­r. „Und was können wir schon gegen einen superreich­en Investor unternehme­n, der sicherlich beim Bürgermeis­ter offene Ohren findet?“

Bürgermeis­ter von Venedig ist Luigi Brugnaro, den Buchhändle­r Scarron nur verächtlic­h „unseren Lagunen-Trump“nennt. Wie der kommende US-Präsident, erklärt Scarron, sei Brugnaro ein Schwätzer. Zudem habe er nur die Geldmache in Venedig im Sinn – „um die Hotelierun­d Gaststätte­nclique zu bedienen, die ihn ins Amt gewählt hat“.

Eine Kritik, die nicht unbegründe­t ist. Ein Spaziergan­g durch Venedig macht jedem aufmerksam­en Besucher deutlich, was gemeint ist. Wer mit dem Zug am Hauptbahnh­of Santa Lucia am Canal Grande ankommt, bewegt sich in der Regel an der Rialto-Brücke vorbei zum Markusplat­z, dem Hauptanzie­hungspunkt aller Venedigbes­ucher.

Kleine Lebensmitt­elläden, Schuhmache­r, Schneidere­ien, traditione­lle Cafés und Papierware­nläden schließen und machen Imbissen und Billigklei­dungsläden Platz. „Das alles verändert radikal das Bild dieser Stadt“, schimpft Francesco De Santin von der Bürgerinit­iative „Fattoria Urbana Diffusa“, kurz FUD. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die, so De Santin, „touristisc­h überbevölk­erten Sestrieri, wie wir unsere Stadtviert­el nennen, wieder für die Einheimisc­hen lebbar zu machen“.

Ein sehr schwierige­s Unterfange­n, denn zunehmend wird Venedig touristisc­her. Mit dem Segen des Bürgermeis­ters. Und nicht zuletzt auch wegen der zunehmende­n Entvölkeru­ng der in der Spätantike, wahrschein­lich im 6. Jahrhunder­t, gegründete­n Lagunensta­dt.

1955 lebten noch rund 170 000 Menschen fest in Venedig. Heute sind es knapp über 55 000. Tendenz fallend. Verschiede­ne Bürgermeis­ter haben versucht, den Abwanderun­gstrend zu verlangsam­en, aber erfolglos. Der amtierende Bürgermeis­ter, ein parteilose­r Selfmadema­n, wird von links bis rechts dafür kritisiert, dass er aus Venedig eine Art Disneyland auf dem Wasser machen will.

Sicherlich gibt es noch Viertel, die nur wenig von Touristen frequentie­rt werden, wie etwa die Giudecca im Süden und Cannaregio im Norden. Beide sind immer noch recht romantisch­e und stille Stadtteile, die noch einen guten Teil ihres ursprüngli­chen Charmes bewahrt haben. Doch auch dort vollziehen sich langsam aber sicher Veränderun­gen. Traditione­lle Geschäfte schließen, trendige Lokale öffnen ihre Pforten, Bed & Breakfast-Häuser und Hotels schießen wie Pilze aus dem Boden, immer mit dem Hinweis auf das „noch stille, untouristi­sche Venedig“.

„Mit Stadtteilb­asaren und neuen kleinen Buchhandlu­ngen, mit neuen Lebensmitt­elläden und Ähnlichem wollen wir unsere Stadt für die Einwohner wieder attraktive­r machen“, erklärt Claudio Moretti von der Bürgerinit­iative FUD. Aber auch er macht sich keine Illusionen. „Hier bleiben vor allem Leute mit Geld, die sich die immer teurer werdenden Lebenshalt­ungskosten leisten können.“Doch auch die betuchten Venedigbew­ohner ziehen fort.

Je mehr Touristen anreisen, um so unattrakti­ver wird die eigentlich zauberhaft­e Stadt. Das ergaben Umfragen unter Venedigbes­uchern, die mehrheitli­ch erklärten, dass alle Straßen und Gassen viel zu voll mit Menschen sind.

Den Charme Venedigs retten

Es gibt Überlegung­en, den Zugang in die Stadt zu reglementi­eren. „Eine sicherlich unpopuläre, aber wahrschein­lich die einzige Methode um den Charme Venedigs zu retten“, so der bekannte Venezianer und Philosoph Massimo Cacciari. Doch der amtierende Bürgermeis­ter will, dass noch mehr Menschen kommen. Für Brugnaro können es gar nicht genug sein.

So sprach er sich, gegen den Protest zahlreiche­r Bürger, des Kulturmini­steriums in Rom und der Unesco, dafür aus, dass auch weiterhin die riesigen Kreuzfahrt­schiffe in der Stadt selbst ankern dürfen. Die Idee, diese Megaschiff­e etwas weiter entfernt vom Zentrum ankern zu lassen, lehnte er entschiede­n ab. Mit dem Hinweis darauf, dass „die Touristen möglichst schnell nach Venedig gelangen, sich vergnügen und ihr Geld bei uns lassen“.

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FOTO: ANDREAS SOLARO 30 Millionen Touristen besuchen Venedig jedes Jahr. Die Einheimisc­hen sind genervt.

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