Polen peitscht umstrittene Schulreform durch
Millionen polnische Jugendliche fragen sich derzeit, wo sie nächstes Jahr zur Schule gehen werden. Sie wissen nicht, was und aus welchen Lehrbüchern sie lernen werden. Fest steht nur: Es wird anders. Mit rasendem Tempo reformiert die nationalkonservative Regierung das Schulsystem.
Einen Lehrplan für das kommende Schuljahr gibt es noch nicht. Trotzdem soll das Gesetz, das diese Woche ins Parlament kommt, schon ab September 2017 greifen. Hals über Kopf kehrt die mit absoluter Mehrheit regierende Partei Recht und Gerechtigkeit PiS zur Schulstruktur aus Zeiten des Kommunismus zurück – Protesten Zehntausender Lehrer, Eltern und Schüler zum Trotz.
Nach dem Willen der PiS sollen polnische Kinder wieder acht statt derzeit sechs Jahre zur Grundschule gehen. Die Mittelschulen, in Polen Gymnasien genannt, werden nach fast 20 Jahren abgeschafft. Dies bedroht nicht nur Zehntausende Arbeitsplätze, wie der polnische Lehrerverband warnt, sondern auch die Chancengleichheit der Schüler auf ein gutes Abitur. Denn die 1999 eingeführten Gymnasien sollten das Leistungsniveau landesweit anheben. In Klasse 7 bis 9 bereiteten sie Schüler auf einen besseren Abschluss an den weiterführenden Oberschulen namens „Liceum“vor.
Internationale Bildungsstudien zeugten vom Erfolg: Bei der jüngsten PISA-Studie 2012 gehörte Polen zur Spitze. „Die Gymnasien haben sich bewiesen“, sagt der Vorsitzende des polnischen Lehrerverbands ZNP Slawomir Broniarz. Gymnasien hätten vor allem Kindern aus ländlichen Regionen mehr Chancen geboten als ihre Dorfschulen. „Diese werden ihnen wieder genommen“, bedauert er.
Bildungsministerin Anna Zalewska meint, die Gymnasien hätten versagt und verweist auf Studien, die bei längerer Grundschulzeit mehr Lernerfolg versprechen. Acht Jahre gemeinsamer Unterricht gebe den Jugendlichen mehr Sicherheit. Ein Schulwechsel in der Pubertät könne bei Teenagern zu Aggressionen führen. Einzelfälle von Gewalt dienten ihr als Beweis, bemängeln Kritiker.
„Diese Reform wirft noch zu viele Fragen auf“, sagt eine besorgte polnische Mutter. Die Lehrerverbände geben ihr recht. „Die Reform wird Polens Bildungswesen ins Chaos stürzen“, mahnt Broniarz. Deformieren statt reformieren, nennen es Gegner.
„Wir wollen mehr erziehen“
Die Herausforderungen fangen schon bei der Logistik an: Kindern stehen volle Klassen, Schulwechsel und oft längere Wege bevor. Kritik gibt es auch am Konzept. Zwar versprach Zalewska eine verstärkte Internetnutzung, doch Stundenzahlen naturwissenschaftlicher Fächer wie Informatik, Physik und Geografie werden reduziert. Stattdessen sollen Kinder mehr über polnische Geschichte und Literatur lernen. „Damit gehen wir fünf Schritte zurück“, sagt Broniarz.
„Uns fehlt es an Ingenieuren und Informatikern im Land, und die PiS verstärkt den Geschichtsunterricht“, wundert sich Katarzyna Lubnauer von der oppositionellen liberalkonservativen Partei Nowoczesna. „Wir wollen wieder mehr erziehen“, sagt Zalewska. Selbst ein Marsch Zehntausender Gegner der Schulreform in Warschau blieb erfolglos. (dpa)