ZF lässt Autos um die Ecke gucken
Zulieferer stellt Sicherheitssystem X2Safe vor – Radler und Fußgänger im Blick
FRIEDRICHSHAFEN - Bisher war das eine Sache für Magier, Trickferngläser aus dem Zauberkasten oder 007: durch Wände oder besser gesagt um die Ecke gucken. Die ZF Friedrichshafen AG lehrt diese Kunst nun Autos, Uhren und Handys. X2Safe heißt das digitale Konzept zur Unfallvermeidung, das der Autozulieferer am Dienstag in München vorgestellt hat.
Das Einzige, was bei der Premiere von X2Safe an den extravaganten britischen Spitzenagenten 007 erinnert, ist das Fahrzeug, in das ZF-Ingenieure das System eingebaut haben: ein Tesla S. Ansonsten bleibt der Zulieferer vom Bodensee bei der Präsentation vor Journalisten bodenständig: ein Fahrrad, eine Fußgängerin, ein Handy und ein paar Planen, die Häuserwände simulieren, zeigen, was ZF und die ganze Branche in Sachen Unfallvermeidung und autonomes Fahren ein Stück voranbringen kann.
Und so funktioniert X2Safe: Das System sammelt, analysiert und bewertet Bewegungsdaten von Autos, Radlern und Fußgängern. Anhand dieser Informationen kann es mögliche Zusammenstöße vorausberechnen, noch bevor sich die künftigen Unfallgegner gegenseitig sehen. Die Intelligenz des Systems besteht laut Konzern darin, dass der von ZF entwickelte Algorithmus das Verhalten aller Verkehrsteilnehmer in der näheren Umgebung individuell analysieren kann und dann über eine Reaktion entscheidet. Hält ein Fußgänger etwa Rotphasen von Ampeln nicht ein oder überquert Straßen an dafür nicht geeigneten Stellen, könne es dieses Verhalten als besonders unsicher bewerten und gehe von einem größeren individuellen Gefährdungspotenzial aus.
Nutzer müssen online sein
Damit X2Safe arbeiten kann, muss das System – zum Beispiel über eine einfach herunterzuladende App – im Fahrzeug, auf dem Handy oder einer Smartwatch installiert und mit dem Internet verbunden sein. Torsten Gollewski, Leiter der ZF-Vorentwicklung, nennt das Produktkonzept „einen sehr pfiffigen Ansatz“, weil man die „Rechnerleistung und damit die Intelligenz in die Cloud verlegt“habe und so unabhängig von der digitalen Ausstattung einzelner Autos sei.
Klingt futuristisch, funktioniert aber bei der Vorstellung vor Journalisten ohne Ruckeln: Im Tesla blinkt es erst gelb, dann rot, auch akustisch wird der Fahrer vor der Fußgängerin gewarnt, die gleich ums Eck biegen wird. Das Handy der Frau warnt ebenfalls vor dem heranbrausenden Wagen – je nach Einstellung der Handy-App durch Piepen, Vibrieren oder über den Kopfhörer.
Je mehr Nutzer X2Safe hat, desto erfolgreicher kann das cloudbasierte System arbeiten. „Schwarmintelligenz“sei das Prinzip, sagt Malgorzata Wiklinska. In der von ihr geleiteten ZF-Denkfabrik ist die Innovation entstanden. Eine Vernetzung mit möglichen Konkurrenzsystemen sei technisch kein Problem.
Warum ZF mit X2Safe die schwächeren Verkehrsteilnehmer ins Visier nimmt, erklärt Wiklinska mit zwei Zahlen: 1,25 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Straße, 50 Prozent davon sind Radler, Fußgänger oder Motorradfahrer. Natürlich geht es bei X2Safe aber auch ums Geschäft. Lösungen wie diese sind unerlässlich, wenn das autonome Fahren Realität wird.
Hinzu kommt, dass X2Safe nicht nur warnen, sondern auch Reaktionen des Autos auslösen kann: Notbremsungen oder automatische Ausweichmanöver zum Beispiel. Das System kann schon im Vorfeld eingreifen, ein mögliches Bremsmanöver frühzeitig vorbereiten und so die Reaktionszeit im Falle eines Falles erheblich verkürzen. Und weil sich ZF nicht nur aufs cloudbasierte Datensammeln versteht, sondern vor allem auch aufs Schalten, Lenken und Bremsen passt X2Safe sehr gut in die Strategie des Konzerns, die zum Ziel hat, führender Systemanbieter beim vernetzten und autonomen Fahren zu werden.
Bereits im kommenden Jahr soll die X2Safe-App zum Herunterladen bereitstehen. Torsten Gollewski rechnet damit, dass das System binnen 36 Monaten großflächig zum Einsatz kommt.