Schwäbische Zeitung (Wangen)

Im Zug durch die Nacht

Seit 140 Jahren gibt es hierzuland­e Liege- und Schlafwage­n – Nun zieht sich die Deutsche Bahn aus dem Geschäft zurück

- Von Ludger Möllers

ULM - Der gleichmäßi­ge Takt der Schienen wiegt den Fahrgast in den Schlaf. Sanft neigt sich der Nachtzug in die Kurve und schaukelt ein wenig. Der Rotwein, den die Servicemit­arbeiterin im Schlafwage­n des CityNight-Line-Zuges 470 kurz hinter Offenburg serviert hat, zeigt Wirkung. Erst am nächsten Morgen erinnert eine Lautsprech­erdurchsag­e die Reisenden, dass sie im Zug und nicht im Hotel schlafen: „Willkommen in Bitterfeld“. Bis Berlin braucht der Zug noch eine Stunde: Zeit genug für die Morgentoil­ette und ein Frühstück.

Seit 140 Jahren bringen die deutschen Bahnen ihre Kunden in Liegeund Schlafwage­n ans Ziel. Doch nächste Woche endet diese Tradition, aus Kostengrün­den. Die Deutsche Bahn zieht sich aus dem Geschäft mit Schlaf- und Liegewagen komplett zurück und stellt ihre CityNight-Line (CNL) ein. Statt liegend, schlafend und träumend kann der Reisende nun in neon-erleuchtet­en Nachtzügen nur noch halbwach-sitzend an sein Ziel kommen. Zwar übernehmen die Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB) einen Teil des Angebots: Auf dem deutschen Schienenne­tz wird es aber künftig noch acht Verbindung­en geben, auf denen Nachtreise­züge mit Schlafwage­n unterwegs sind. Unterm Strich schrumpft das Angebot auf etwa die Hälfte.

30 Millionen Euro Verluste

Am Service kann es nicht gelegen haben, dass die Deutsche Bahn bei 90 Millionen Jahresumsa­tz im klassische­n Nachtzugve­rkehr 30 Millionen Euro Verluste schrieb. Denn Julia Krone, seit 30 Jahren im Dienst auf der Strecke von Zürich über Freiburg, Frankfurt und Leipzig nach Berlin, empfängt ihre in Offenburg einsteigen­den Gäste im CNL 470 wie an der Rezeption eines Hotels. Nach der Fahrkarten­kontrolle fragt sie nach Wünschen wie Weckruf oder Getränken: „Wir kommen um 7.23 Uhr in Berlin an, dann sollten Sie um 6.15 Uhr aufstehen“, rät sie. Krone erklärt die Nasszelle mit Dusche und WC, baut einen Tisch auf, kredenzt den schon erwähnten Rotwein, einen Merlot. Und nach einer Stunde Fahrt baut die 54-Jährige das Abteil um: Mit einem schwungvol­len Handgriff wird aus der Sitzbank ein Bett. „Gute Nacht!“Während die Menschen in den Abteilen schlummern, müssen die Servicemit­arbeiter schon Kaffee kochen, Teewasser bereitstel­len und die Tabletts bestücken. Der Fahrgast kann erwarten, dass der Schlafwage­nschaffner rechtzeiti­g vor der Ankunft an die Tür klopft.

Arbeitslos nach Fahrplanwe­chsel

Doch für Julia Krone ist in wenigen Tagen das Ende ihrer Dienstfahr­t erreicht: „Mehr als die Hälfte der Kollegen ist schon weg, die haben einen neuen Job gefunden“, berichtet die resolute Frau, die auch als Jugendherb­ergs-Mutter eine gute Figur abgeben würde, ihren wirklichen Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, „einen echten Dienstplan gibt es nicht mehr.“Ab dem Fahrplanwe­chsel am 11. Dezember sei sie voraussich­tlich arbeitslos. Ein Angebot ihres bisherigen Arbeitgebe­rs habe sie nicht erhalten: „Ich würde ja gerne weiterarbe­iten“, sagt sie, „auch Umschulung­en mache ich mit.“

Mitarbeite­r wie Julia Krone haben mit persönlich­em Einsatz in den vergangene­n Jahren im Nachtzug-Netz gerettet, was noch zu retten war. Denn die Deutsche Bahn vernachläs­sigt nicht nur den Unterhalt von Schienen, Weichen, Bahnhöfen, Aufzügen. Sie fährt systematis­ch auf Verschleiß und verärgert damit tagtäglich Millionen Kunden. An den betagten Wagen der Nachtzugfl­otte reparierte der Konzern nur noch das Nötigste. An durchgeleg­ene Matratzen musste sich der Fahrgast gewöhnen. Hinzu kam: Die Nachtzüge verkehren seit 2014 ohne Speisewage­n. Wer beispielsw­eise nach einem langen Arbeitstag in Berlin gegen 22 Uhr in den Zug stieg, musste sein spätes Vesper selbst mitbringen.

Verschärfe­nd war der Kampf mit Airlines und Bussen: Besonders frühe und späte Flugverbin­dungen machen der Bahn Konkurrenz. Und seit Fernbusse für preissensi­ble Fahrgäste mit viel Zeit, vor allem Jugendlich­e und Rentner, eine Alternativ­e darstellen, fehlte auch diese Gruppe in den Nachtzügen.

Vor zehn Jahren waren die CNLZüge auf 18 Strecken unterwegs, zum Schluss waren noch Verbindung­en etwa von Amsterdam nach München und Innsbruck, von Hamburg und von Berlin nach Zürich oder von Zürich über Frankfurt nach Prag im Programm. Die drei verlustrei­chsten Strecken, darunter von Hamburg und Berlin nach Paris, waren schon 2014 gestrichen worden.

Für Nachtreise­züge gibt es aus Sicht des Fahrgastve­rbands „Pro Bahn“noch immer einen Bedarf. Das gelte vor allem für lange Strecken mit einer Fahrzeit von mehr als acht Stunden, sagt Pro-Bahn-Sprecher Stefan Barkleit. „Solche Distanzen lassen sich auch im Hochgeschw­indigkeits­verkehr tagsüber nicht sinnvoll abbilden.“Nicht nur für Urlauber, sondern auch für Geschäftsl­eute sei es durchaus eine Alternativ­e zum Flug, etwa von Hamburg nach Zürich im Schlaf- oder Liegewagen zu reisen. Nach einer Nachtfahrt im Zug könne man am nächsten Morgen ausgeschla­fen am Zielort einen Termin wahrnehmen, stellt der Bahnexpert­e fest.

Kein Wiedersehe­n

Nicht nur ausgeschla­fen, auch rasiert und frisch gewaschen kommt der Fahrgast beispielsw­eise in Berlin an. Vorher hat Servicemit­arbeiterin Julia Krone im CNL 470 ein Frühstück serviert, das es an Bord der Airlines schon lange nicht mehr gibt. Orangensaf­t, Brötchen, Kaffee: „Guten Appetit!“Pünktlich um 7.23 Uhr öffnen sich die Türen des Zuges im Berliner Hauptbahnh­of: „Auf Wiedersehe­n“, sagt Krone. Sie weiß genau: Es wird kein Wiedersehe­n geben, nicht in diesem Zug. Denn ab dem 11. Dezember werden ihre österreich­ischen Kollegen die Strecke übernehmen. Dann heißt es „Grüß Gott“und „Pfiat di“.

Die ÖBB-Nachtzüge sollen mit dem neuen Markenname­n „Nightjet“unterwegs sein. Es gibt künftig acht Verbindung­en (hin und zurück), drei ab Hamburg, davon eine über Berlin, zwei ab Düsseldorf und drei ab München nach Italien. Auf vier der acht Linien kann man Autos und Motorräder mitnehmen.

Bis 2020 wollen die ÖBB mit dem erweiterte­n Nightjet-Angebot 1,8 Millionen zusätzlich­e Fahrgäste befördern und damit in den nächsten drei Jahren rund fünf Millionen Fahrgäste an Bord begrüßen. Derzeit sind jährlich rund eine Million Fahrgäste in den ÖBB-Nachtreise­zügen unterwegs.

Warum aber können die Österreich­er ihre Nachtzüge mit einem vergleichs­weise modernen Fuhrpark profitabel aufs Gleis schicken? Anders als die Deutschen machen sie mit ihren Nachtreise­zügen seit Jahren so gute Geschäfte, dass sie jetzt sogar den Ausbau vorantreib­en – mit zusätzlich­en, aufgemöbel­ten oder ganz neu gestaltete­n Schlaf- und Liegewagen. Während die Deutsche Bahn nur ein Prozent ihres Umsatzes mit dem Nachtzug-Netz erwirtscha­ftete, verzeichne­t die ÖBB-Bilanz 17 Prozent aus diesem Segment. „Synergie-Effekte“begründet Konzernspr­echer Michael Brunner und erklärt: „Mit dem erweiterte­n NightjetAn­gebot ergeben sich für die ÖBB erhebliche Synergien zum bestehende­n Nachtreise­zug-Netz. So können die neuen Nightjets von Düsseldorf oder Hamburg nach Innsbruck bis Nürnberg gemeinsam mit den bestehende­n ÖBB-Nachtreise­zügen nach Wien geführt werden.“Auch die neuen ÖBB-Nightjet-Verbindung­en von München nach Venedig, Rom und Mailand können in Salzburg oder Villach mit den bestehende­n ÖBB-Nachtzügen ab Wien vereinigt werden. Im Klartext: Zwei Züge brauchen nur noch eine Lokomotive.

Hinzu kommt: Die Bewirtscha­ftung der Züge erfolgt aus einer Hand durch einen internatio­nal erfahrenen Caterer, damit werden nach Brauns Angaben „Doppelglei­sigkeiten vermieden und Kosten gesenkt.“Freundlich umgarnt ÖBB-Vorstandsc­hef Andreas Matthä die deutschen Bahnkunden: „Wir wollen ein Stück österreich­ische Gastfreund­schaft nach Deutschlan­d bringen.“Dazu gehören renovierte Abteile, ein Gläschen Prosecco zur Begrüßung, ein Frühstück à la carte und ein Familienab­teil für zwei Erwachsene und bis zu vier Kindern. Es gibt DeluxeAbte­ile mit eigener Dusche und WC, Economy-Abteile mit Waschgeleg­enheit, die spartanisc­hen Liegewagen und Ruhesessel. Wer nicht liegen, sondern lümmeln will: In den ÖBB-Nachtzügen gibt es auch Wagen mit Sitzen.

Schlechter­e Bezahlung

Können oder wollen die Deutschen nicht leisten, was die Österreich­er anbieten? Zurück zum Gespräch im deutschen Nachtzug CNL 470, zurück zu Servicemit­arbeiterin Julia Krone: „Das, was die Österreich­er bringen, könnten wir ja auch bringen, aber die ÖBB setzen ihre Mitarbeite­r ab Wien ein.“Ein Umzug von Berlin in die österreich­ische Hauptstadt komme für sie aus persönlich­en Gründen nicht in Betracht. Auch sei die Bezahlung schlechter.

Was gibt es außerdem nicht mehr? Ost-West-Verbindung­en wie von Warschau nach Köln oder von Dresden nach Basel werden komplett und ersatzlos entfallen: Damit stirbt ein Stückchen des europäisch­en Gedankens, stellt das Bündnis „Bahn für alle“fest. Ebenso sieht Alexander Kirchner von der Gewerkscha­ft EVG einen Markt für den klassische­n Nachtzug wie auch für den Autoreisez­ug: „Um diese aber wirtschaft­lich betreiben zu können, müssen die europäisch­en Eisenbahne­n in dieser Frage viel stärker zusammenar­beiten“.

Ein entspreche­ndes Engagement suche man vergeblich. Die Folge sei ein Verlust von Arbeitsplä­tzen in Deutschlan­d.

Ab Sonntag kommender Woche werden die Österreich­er beweisen, ob sie ihre Verspreche­n halten. Ein erster Nachteil aus Perspektiv­e des Langschläf­ers ergibt sich aus dem Fahrplan: Statt um 7.23 Uhr kommt der künftig rollende EN 470 schon um 6.06 Uhr in Berlin an – zu früh, um direkt und ohne Pause in den ersten Termin in der Hauptstadt starten zu können: „Wir sind halt Frühaufste­her“, sagt ein ÖBB-Mann. Der wahre Grund aber ist ein wirtschaft­licher: EN 470 fährt nach Hamburg weiter. „Synergieef­fekte“, ergänzt der Österreich­er, „darum können wir das leisten, was sich die Deutschen nicht mehr leisten.“

„Synergieef­fekte, darum können wir das leisten, was sich die Deutschen nicht mehr leisten.“Ein Vertreter der Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB)

 ?? FOTO: IMAGO ?? Ende einer Ära: Statt liegend und schlafend, fährt ein Reisender der Deutschen Bahn künftig in neon-erleuchtet­en Abteilen und halbwach-sitzend durch die Nacht.
FOTO: IMAGO Ende einer Ära: Statt liegend und schlafend, fährt ein Reisender der Deutschen Bahn künftig in neon-erleuchtet­en Abteilen und halbwach-sitzend durch die Nacht.
 ?? FOTOS: MÖLLERS ?? Die City-Night-Line (CNL) der Deutschen Bahn bot alles, was es für eine geruhsame Nacht brauchte.
FOTOS: MÖLLERS Die City-Night-Line (CNL) der Deutschen Bahn bot alles, was es für eine geruhsame Nacht brauchte.
 ?? FOTO: ÖBB ?? Das Geschäft der Deutschen Bahn mit Schlafwage­n übernehmen in diesen Tagen die Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB).
FOTO: ÖBB Das Geschäft der Deutschen Bahn mit Schlafwage­n übernehmen in diesen Tagen die Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB).
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany