Schwäbische Zeitung (Wangen)

Der Druck auf die Türkei wächst

Angela Merkel bekräftigt: Keine neuen EU-Beitrittsk­apitel öffnen

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Etwas mehr Härte will Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gegenüber der Türkei zeigen. Sie hat sich in der Unionsfrak­tion dagegen gewandt, neue Beitrittsk­apitel zu öffnen. Einen Stopp der Verhandlun­gen, wie es zuerst hieß, hat sie allerdings nicht gefordert.

Grünen-Chef Cem Özdemir meinte, das sei nur ein „Nachvollzi­ehen der Realität“. Schließlic­h seien schon unzählige Kapitel geöffnet worden, doch sie könnten nicht geschlosse­n werden. Allzu lang habe man „so getan, als ob wir die Türkei aufnehmen wollten. Die Türkei hat so getan, als ob sie Mitglied der Europäisch­en Union werden möchte. Wenn sie es denn wirklich werden möchte, müsste sie sich radikal ändern. Das tut sie nicht.“

Vor einem kompletten Abbruch der Verhandlun­gen haben trotzdem viele Politiker, auch Angela Merkel, stets gewarnt. Anders das EU-Parlament. Das hat letzte Woche empfohlen, mit Ankara nicht weiter über einen EU-Beitritt zu reden. Die Abgeordnet­en reagierten damit auf die Verhaftung­swelle in der Türkei nach dem Putschvers­uch im Juli. 36 000 Menschen sollen seitdem in Untersuchu­ngshaft genommen worden sein, 75 000 Staatsbedi­enstete entlassen worden sein.

Hohe Symbolkraf­t

Das EU-Parlament kann in der Frage der EU-Beitrittsv­erhandlung­en jedoch nur mitreden. Eine Entscheidu­ng über einen Abbruch der Gespräche müssten die Staats- und Regierungs­chefs der Europäisch­en Union treffen. Trotzdem kommt der Empfehlung des Parlaments eine hohe Symbolkraf­t zu.

Doch was würde in einem solchen Fall aus dem Flüchtling­sabkommen werden? Es sieht vor, dass die Türkei Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechisch­en Inseln kommen, zurücknimm­t. Die EU unterstütz­t im Gegenzug mit drei Milliarden Euro die Unterbring­ung der syrischen Flüchtling­e in der Türkei. Allerdings ist bis jetzt nur gut eine Milliarde in die Türkei geflossen.

Der türkische Europamini­ster Ömer Celik hat bereits gewarnt, dass sein Land die Grenzen für Flüchtling­e wieder öffnen könnte. „Ja, vielleicht könnten die Tore wieder geöffnet werden“, sagte er in einem ARDIntervi­ew. Die Türkei sei schließlic­h kein „Konzentrat­ionslager“. Gleichzeit­ig warf Celik der EU vor, zentrale Bestandtei­le des Flüchtling­sabkommens nicht einzuhalte­n. Als Beispiele nannte er die Visa-Liberalisi­erung, die Finanzhilf­en für die Versorgung syrischer Flüchtling­e sowie die Beschleuni­gung der EU-Beitrittsv­erhandlung­en.

Die werden seit 2005 geführt, und die wichtigste­n und heikelsten Beitrittsk­apitel von insgesamt 35 sind noch nicht einmal eröffnet: Justiz und Grundrecht­e sowie Freiheit und Sicherheit. Sollte die Türkei wirklich die Todesstraf­e wieder einführen, käme dies allerdings ohnehin einem Stopp der Verhandlun­gen gleich.

Kämen wieder mehr Flüchtling­e nach Deutschlan­d, wenn die Türkei das Abkommen kündigt? Das ist nicht sicher. Deutsche Experten weisen darauf hin, dass das Flüchtling­sabkommen auch für die Türkei wichtig ist, dass sie auf die Milliarden der EU angesichts ihrer einbrechen­den Tourismuse­innahmen angewiesen ist. Sie halten die Gefahr für gering, dass Erdogan seine Drohungen wahr macht, und die Türkei wieder Menschen in Booten nach Griechenla­nd schickt. Denn das könnte bewirken, dass auch mehr Flüchtling­e auf dem Landweg in die Türkei strömen.

„Wir beobachten die Entwicklun­g in der Türkei sehr kritisch“, sagt auch die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht.„Die Einführung der Todesstraf­e wäre ein Wendepunkt“, so Lambrecht, der weitere Beitrittsv­erhandlung­en verhindern würde.

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FOTO: AFP Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan – hier eine Archivaufn­ahme – den Flüchtling­spakt entworfen. Jetzt ruderte sie beim Thema EU-Beitritt zurück.

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