Seelenverkäufer
In Italien kommen wieder mehr Flüchtlinge an – Schleuser machen mit der Not ein Milliardengeschäft
CATANIA/ROM - Der Raum, in dem der norwegische Polizist Pal Erik Teigen Videos von Frontex-Einsätzen im Mittelmeer zeigt, ist nicht gerade groß für circa 30 Besucher. Alle starren gebannt nach vorne auf die Leinwand, manche schlucken beim Anblick dieser Bilder, die den Kampf um Menschenleben im Mittelmeer zeigen. Rettungsschwimmer, die ertrinkende Flüchtlinge mit vollem Körpereinsatz aus dem Wasser ziehen, Beamte, die versuchen, verzweifelte Menschen auf manövrierunfähigen Schlauchbooten so weit zu beruhigen, dass sie überhaupt gerettet werden können. Der panische Sprung ins Wasser endet für die vielen, die nicht richtig schwimmen können, tödlich. Umso verheerender ist es, wenn das Boot ganz kippen sollte und Dutzende ins Meer fallen.
Auf einem Bild ist ein kaputtes, vollgelaufenes Schlauchboot zu sehen, Leichname treiben darin herum. Solche Aufnahmen bekommt die Öffentlichkeit normalerweise nicht zu sehen – aus Respekt vor den Toten. Teigen zeigt sie trotzdem, um klarzumachen, was sich Tag für Tag auf dem Mittelmeer abspielt. Der 50-Jährige ist Kommandant auf dem norwegischen Schiff Siem Pilot, das im Hafen der sizilianischen Stadt Catania liegt. Ihm geht es um Hunderttausende Frauen, Kinder und Männer, deren Schicksal von den Menschenschmugglern auf der einen Seite des Mittelmeers und den Rettern auf der anderen Seite abhängt.
Mittelmeer bleibt ein Massengrab
„An einem Tag sehen wir nur Leiden, an einem anderen Tag erleben wir auch Schönes“, sagt Teigen, ein Norweger mit breiten Schultern und kahlem Schädel, der zum vierten Mal zur Europäischen Grenzagentur Frontex entsandt wurde. Beispielsweise die Geburt von Elia. Ein Winzling mit Wollmütze, der jetzt aber eine Chance auf ein Leben hat. Mehr als 28 000 Flüchtlinge hat die Besatzung der Siem Pilot, die eigentlich ein Versorgungsschiff für Ölplattformen in der Nordsee ist, gerettet. Und doch ist das nur ein kleiner Teil derjenigen, die sich in die Hände der Schmuggler begeben haben – in der Hoffnung auf eine Zukunft in Europa. Bis Anfang November dieses Jahres kamen in Italien rund 160 000 Flüchtlinge an, wieder einige Tausend mehr als im Jahr zuvor. Nahezu alle wurden aus Seenot gerettet – von Nichtregierungsorganisationen, von Schiffen im Rahmen der Operationen Triton und Sophia und den Küstenwachen. Die Überfahrt nicht überlebt haben bislang mindestens 4000 Menschen in diesem Jahr. Das Mittelmeer bleibt also ein Massengrab, auch deshalb, weil die Schlepper immer gnadenloser werden.
Mit Waffengewalt auf ein Boot
„Die Schlauchboote sind in einem verheerend schlechten Zustand“, sagt Kommandant Teigen. Nur eine Luftkammer, zusammengeschustert aus chinesischem Gummi schlechtester Qualität, dünnen Holzplanken und zu schwachen Motoren. Dazu kommt, dass 150 bis 160 Menschen, auf jeden Fall viel zu viele, auch mit Waffengewalt auf ein Boot gezwungen werden, und der Treibstoff, selbst wenn der Motor durchhalten sollte, nicht für die ganze Überfahrt ausreicht. Gerade einmal vier Schiffe sind laut Fabrizio Colombo, Einsatzleiter der Küstenwache in der Region Catania, in diesem Jahr ohne Hilfe in Sizilien angekommen. Die Schmuggler in den nordafrikanischen Hafenstädten, vor allem in Libyen, machen mit diesem skrupellosen Geschäft einen Riesenreibach, nach FrontexSchätzungen sind es vier bis sechs Milliarden Euro pro Jahr, die für den Transport auf den Seelenverkäufern bezahlt werden.
Die Europäische Union versucht zwar, vor allem mit der militärischen Operation Sophia die Schleuserkriminalität einzudämmen, doch die steigenden Flüchtlingszahlen lassen am Erfolg dieses Vorhabens zweifeln. Man muss sogar davon ausgehen, dass die Schlepper die Hilfsbereitschaft der Europäer inzwischen als Teil ihres Geschäftsmodells sehen. Denn ohne Aussicht auf Rettung würden sich vielleicht weniger aufs Meer wagen – aber mit Sicherheit noch viel mehr Menschen sterben.
Yanas, Samuel und Luwan haben es nach Europa geschafft. Die drei Eritreer, zwischen 18 und 26 Jahre alt, wohnen seit einigen Monaten im Registrierungszentrum Mineo auf Sizilien. Das Flüchtlingslager sieht im Vergleich zu den griechischen Camps nahezu einladend und familiär aus: zweistöckige Reihenhäuser mit ein bisschen Grün vor der Haustür, geteerten Straßen, Sozialarbeitern und ständiger Polizeipräsenz. 3100 Asylbewerber leben hier, knapp 900 wollen aber nicht in Italien bleiben, sondern warten auf die Umverteilung in andere europäische Länder – so wie die drei jungen Eritreer. „Ich will nach Deutschland oder in die Schweiz zu meiner Familie“, sagt Yanas. Aussuchen kann er es sich zwar nicht, wo er als nächstes hinkommt, aber Wünsche äußern. Samuel möchte zu seinem Bruder nach Norwegen und Luwan ebenfalls zu einem Bruder nach Deutschland.
Rein formal erfüllen die Eritreer die wichtigste Vorgabe, um ihr Asylverfahren mit in ein anderes europäisches Land zu nehmen: eine Anerkennungsquote von mindestens 75 Prozent – bezogen auf das Herkunftsland. Syrische Flüchtlinge haben deshalb ebenfalls eine Chance auf Umverteilung, irakische und afghanische Asylbewerber dagegen nicht. Das weckt bei vielen Neid und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Bei der Registrierung versuchen sie deshalb, eine andere Nationalität anzugeben.
Dublin-System abgeschwächt
Das europäische Umverteilungsprogramm, im September 2015 in der Hochphase des Flüchtlingszustroms beschlossen: Man könnte es als Notnagel bezeichnen. Einerseits wurde damit ein Stück weit das Dublin-System, das sich in der Krise als weitgehend untauglich erwiesen hat, ausgehebelt, ohne dies jedoch offiziell so zu benennen. Andererseits verpflichteten sich die EU-Mitgliedsstaaten zu homöopathischen Dosen der Solidarität mit den Ländern an den EU-Außengrenzen, ohne ihr eigenes Stimmvolk zu verprellen. Griechenland und Italien wurde im Gegenzug abverlangt, dass sie tatsächlich dazu übergehen, Neuankömmlinge in ihrem Land zu registrieren und nicht großzügig über deren Abwanderung Richtung Norden hinwegzusehen.
160 000 Menschen sollen bis September 2017 in der Europäischen Union umverteilt werden; Deutschland sagte die Aufnahme von rund 27 000 Asylbewerbern zu. Auch die vier widerborstigen Visegrad-Staaten im Osten Europas verpflichteten sich, einige Tausend Asylbewerber aufzunehmen. Geschehen ist bislang leidlich wenig. Bis Mitte November kamen gerade mal rund 400 Flüchtlinge im Zuge dieses Verfahrens nach Deutschland, andere EU-Staaten verweigerten sich komplett. „Das Umverteilungsprogramm funktioniert bislang nicht“, sagt Präfekt Mario
Morcone, der im italienischen Innenministerium für Flüchtlinge zuständig ist. Der 64-Jährige, der Innenminister Angelino Alfano vertritt, ist der Mann für Flüchtlingsfragen in Italien. Und Morcone ist, das kann und will er offensichtlich nicht verbergen, enttäuscht von der mangelnden Solidarität der anderen EU-Länder. „In Osteuropa denken sie immer noch, dass die Flüchtlingskrise ein italienisches Problem ist“, sagt er in Rom. Er komme daher immer mehr zu dem Ergebnis, dass die Osterweiterung der Europäischen Union ein Fehler gewesen sei. Aber ein Druckmittel, um die Anliegen seines Landes in Brüssel besser vertreten zu können, habe er nicht.
Fluchtursachen bekämpfen
Und wie soll es nun weitergehen in Italien, wo Monat für Monat weitere Tausende Flüchtlinge von europäischen Schiffen an Land geholt werden? Man setze auf eine weitergehende Reform des Dublin-Systems. Und auf Migrationspartnerschaften mit afrikanischen Ländern wie beispielsweise Niger und Nigeria, heißt es aus dem italienischen Außenministerium in Rom. In diesen Ländern sollen die Fluchtursachen mit Milliardeninvestitionen und -bürgschaften vor Ort bekämpft werden, auch Aufklärungskampagnen sind geplant über die tödlichen Risiken der Flucht. Bis diese Programme wirken, dürfte allerdings noch einige Zeit ins Land gehen – und somit neben der Zahl der Flüchtlinge in Europa auch die der Toten im Mittelmeer weiter steigen. Der norwegische Kommandant im Frontex-Einsatz, Pal Erik Teigen, ist deshalb überzeugt, auf der Siem Pilot am richtigen Ort zu sein. „Ich habe das Gefühl, das Richtige zu tun“, sagte er: „Unsere Priorität ist es, Menschen zu retten, die sonst sterben müssten.“