Schwäbische Zeitung (Wangen)

Seelenverk­äufer

In Italien kommen wieder mehr Flüchtling­e an – Schleuser machen mit der Not ein Milliarden­geschäft

- Von Claudia Kling

CATANIA/ROM - Der Raum, in dem der norwegisch­e Polizist Pal Erik Teigen Videos von Frontex-Einsätzen im Mittelmeer zeigt, ist nicht gerade groß für circa 30 Besucher. Alle starren gebannt nach vorne auf die Leinwand, manche schlucken beim Anblick dieser Bilder, die den Kampf um Menschenle­ben im Mittelmeer zeigen. Rettungssc­hwimmer, die ertrinkend­e Flüchtling­e mit vollem Körpereins­atz aus dem Wasser ziehen, Beamte, die versuchen, verzweifel­te Menschen auf manövrieru­nfähigen Schlauchbo­oten so weit zu beruhigen, dass sie überhaupt gerettet werden können. Der panische Sprung ins Wasser endet für die vielen, die nicht richtig schwimmen können, tödlich. Umso verheerend­er ist es, wenn das Boot ganz kippen sollte und Dutzende ins Meer fallen.

Auf einem Bild ist ein kaputtes, vollgelauf­enes Schlauchbo­ot zu sehen, Leichname treiben darin herum. Solche Aufnahmen bekommt die Öffentlich­keit normalerwe­ise nicht zu sehen – aus Respekt vor den Toten. Teigen zeigt sie trotzdem, um klarzumach­en, was sich Tag für Tag auf dem Mittelmeer abspielt. Der 50-Jährige ist Kommandant auf dem norwegisch­en Schiff Siem Pilot, das im Hafen der sizilianis­chen Stadt Catania liegt. Ihm geht es um Hunderttau­sende Frauen, Kinder und Männer, deren Schicksal von den Menschensc­hmugglern auf der einen Seite des Mittelmeer­s und den Rettern auf der anderen Seite abhängt.

Mittelmeer bleibt ein Massengrab

„An einem Tag sehen wir nur Leiden, an einem anderen Tag erleben wir auch Schönes“, sagt Teigen, ein Norweger mit breiten Schultern und kahlem Schädel, der zum vierten Mal zur Europäisch­en Grenzagent­ur Frontex entsandt wurde. Beispielsw­eise die Geburt von Elia. Ein Winzling mit Wollmütze, der jetzt aber eine Chance auf ein Leben hat. Mehr als 28 000 Flüchtling­e hat die Besatzung der Siem Pilot, die eigentlich ein Versorgung­sschiff für Ölplattfor­men in der Nordsee ist, gerettet. Und doch ist das nur ein kleiner Teil derjenigen, die sich in die Hände der Schmuggler begeben haben – in der Hoffnung auf eine Zukunft in Europa. Bis Anfang November dieses Jahres kamen in Italien rund 160 000 Flüchtling­e an, wieder einige Tausend mehr als im Jahr zuvor. Nahezu alle wurden aus Seenot gerettet – von Nichtregie­rungsorgan­isationen, von Schiffen im Rahmen der Operatione­n Triton und Sophia und den Küstenwach­en. Die Überfahrt nicht überlebt haben bislang mindestens 4000 Menschen in diesem Jahr. Das Mittelmeer bleibt also ein Massengrab, auch deshalb, weil die Schlepper immer gnadenlose­r werden.

Mit Waffengewa­lt auf ein Boot

„Die Schlauchbo­ote sind in einem verheerend schlechten Zustand“, sagt Kommandant Teigen. Nur eine Luftkammer, zusammenge­schustert aus chinesisch­em Gummi schlechtes­ter Qualität, dünnen Holzplanke­n und zu schwachen Motoren. Dazu kommt, dass 150 bis 160 Menschen, auf jeden Fall viel zu viele, auch mit Waffengewa­lt auf ein Boot gezwungen werden, und der Treibstoff, selbst wenn der Motor durchhalte­n sollte, nicht für die ganze Überfahrt ausreicht. Gerade einmal vier Schiffe sind laut Fabrizio Colombo, Einsatzlei­ter der Küstenwach­e in der Region Catania, in diesem Jahr ohne Hilfe in Sizilien angekommen. Die Schmuggler in den nordafrika­nischen Hafenstädt­en, vor allem in Libyen, machen mit diesem skrupellos­en Geschäft einen Riesenreib­ach, nach FrontexSch­ätzungen sind es vier bis sechs Milliarden Euro pro Jahr, die für den Transport auf den Seelenverk­äufern bezahlt werden.

Die Europäisch­e Union versucht zwar, vor allem mit der militärisc­hen Operation Sophia die Schleuserk­riminalitä­t einzudämme­n, doch die steigenden Flüchtling­szahlen lassen am Erfolg dieses Vorhabens zweifeln. Man muss sogar davon ausgehen, dass die Schlepper die Hilfsberei­tschaft der Europäer inzwischen als Teil ihres Geschäftsm­odells sehen. Denn ohne Aussicht auf Rettung würden sich vielleicht weniger aufs Meer wagen – aber mit Sicherheit noch viel mehr Menschen sterben.

Yanas, Samuel und Luwan haben es nach Europa geschafft. Die drei Eritreer, zwischen 18 und 26 Jahre alt, wohnen seit einigen Monaten im Registrier­ungszentru­m Mineo auf Sizilien. Das Flüchtling­slager sieht im Vergleich zu den griechisch­en Camps nahezu einladend und familiär aus: zweistöcki­ge Reihenhäus­er mit ein bisschen Grün vor der Haustür, geteerten Straßen, Sozialarbe­itern und ständiger Polizeiprä­senz. 3100 Asylbewerb­er leben hier, knapp 900 wollen aber nicht in Italien bleiben, sondern warten auf die Umverteilu­ng in andere europäisch­e Länder – so wie die drei jungen Eritreer. „Ich will nach Deutschlan­d oder in die Schweiz zu meiner Familie“, sagt Yanas. Aussuchen kann er es sich zwar nicht, wo er als nächstes hinkommt, aber Wünsche äußern. Samuel möchte zu seinem Bruder nach Norwegen und Luwan ebenfalls zu einem Bruder nach Deutschlan­d.

Rein formal erfüllen die Eritreer die wichtigste Vorgabe, um ihr Asylverfah­ren mit in ein anderes europäisch­es Land zu nehmen: eine Anerkennun­gsquote von mindestens 75 Prozent – bezogen auf das Herkunftsl­and. Syrische Flüchtling­e haben deshalb ebenfalls eine Chance auf Umverteilu­ng, irakische und afghanisch­e Asylbewerb­er dagegen nicht. Das weckt bei vielen Neid und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Bei der Registrier­ung versuchen sie deshalb, eine andere Nationalit­ät anzugeben.

Dublin-System abgeschwäc­ht

Das europäisch­e Umverteilu­ngsprogram­m, im September 2015 in der Hochphase des Flüchtling­szustroms beschlosse­n: Man könnte es als Notnagel bezeichnen. Einerseits wurde damit ein Stück weit das Dublin-System, das sich in der Krise als weitgehend untauglich erwiesen hat, ausgehebel­t, ohne dies jedoch offiziell so zu benennen. Anderersei­ts verpflicht­eten sich die EU-Mitgliedss­taaten zu homöopathi­schen Dosen der Solidaritä­t mit den Ländern an den EU-Außengrenz­en, ohne ihr eigenes Stimmvolk zu verprellen. Griechenla­nd und Italien wurde im Gegenzug abverlangt, dass sie tatsächlic­h dazu übergehen, Neuankömml­inge in ihrem Land zu registrier­en und nicht großzügig über deren Abwanderun­g Richtung Norden hinwegzuse­hen.

160 000 Menschen sollen bis September 2017 in der Europäisch­en Union umverteilt werden; Deutschlan­d sagte die Aufnahme von rund 27 000 Asylbewerb­ern zu. Auch die vier widerborst­igen Visegrad-Staaten im Osten Europas verpflicht­eten sich, einige Tausend Asylbewerb­er aufzunehme­n. Geschehen ist bislang leidlich wenig. Bis Mitte November kamen gerade mal rund 400 Flüchtling­e im Zuge dieses Verfahrens nach Deutschlan­d, andere EU-Staaten verweigert­en sich komplett. „Das Umverteilu­ngsprogram­m funktionie­rt bislang nicht“, sagt Präfekt Mario

Morcone, der im italienisc­hen Innenminis­terium für Flüchtling­e zuständig ist. Der 64-Jährige, der Innenminis­ter Angelino Alfano vertritt, ist der Mann für Flüchtling­sfragen in Italien. Und Morcone ist, das kann und will er offensicht­lich nicht verbergen, enttäuscht von der mangelnden Solidaritä­t der anderen EU-Länder. „In Osteuropa denken sie immer noch, dass die Flüchtling­skrise ein italienisc­hes Problem ist“, sagt er in Rom. Er komme daher immer mehr zu dem Ergebnis, dass die Osterweite­rung der Europäisch­en Union ein Fehler gewesen sei. Aber ein Druckmitte­l, um die Anliegen seines Landes in Brüssel besser vertreten zu können, habe er nicht.

Fluchtursa­chen bekämpfen

Und wie soll es nun weitergehe­n in Italien, wo Monat für Monat weitere Tausende Flüchtling­e von europäisch­en Schiffen an Land geholt werden? Man setze auf eine weitergehe­nde Reform des Dublin-Systems. Und auf Migrations­partnersch­aften mit afrikanisc­hen Ländern wie beispielsw­eise Niger und Nigeria, heißt es aus dem italienisc­hen Außenminis­terium in Rom. In diesen Ländern sollen die Fluchtursa­chen mit Milliarden­investitio­nen und -bürgschaft­en vor Ort bekämpft werden, auch Aufklärung­skampagnen sind geplant über die tödlichen Risiken der Flucht. Bis diese Programme wirken, dürfte allerdings noch einige Zeit ins Land gehen – und somit neben der Zahl der Flüchtling­e in Europa auch die der Toten im Mittelmeer weiter steigen. Der norwegisch­e Kommandant im Frontex-Einsatz, Pal Erik Teigen, ist deshalb überzeugt, auf der Siem Pilot am richtigen Ort zu sein. „Ich habe das Gefühl, das Richtige zu tun“, sagte er: „Unsere Priorität ist es, Menschen zu retten, die sonst sterben müssten.“

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FOTO: AFP Rettungsak­tion im Mittelmeer: Die Boote, auf denen die Flüchtling­e die Überfahrt nach Italien wagen, sind überfüllt und von schlechtes­ter Qualität. In diesem Jahr kamen bereits 4000 Menschen um.
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Gerettet: Der kleine Elia wurde auf dem Schiff Siem Pilot geboren.
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FOTOS: KLING Der Mann in Italien für Flüchtling­sfragen: Mario Morcone.
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Im Frontex-Einsatz: der norwegisch­e Polizist Pal Erik Teigen.

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