Schwäbische Zeitung (Wangen)

Punk, Pop, Attitüde

Für unzählige Musikfans sind sie Kult: Jetzt legen Die Ärzte ihre neue Biografie vor

- Von Daniel Drescher

RAVENSBURG - Manchmal ist es besser, den Ratschlag des Lehrers mit dem erhobenen Zeigefinge­r in den Wind zu schlagen und das komplette Gegenteil von dem zu tun, was der Erzieher rät. „Jan, egal was du später mal machst, mach bitte nichts mit Musik.“Dieser legendäre Satz ist wohl einer der größten Irrtümer der deutschen Musikgesch­ichte. Ausgesproc­hen hat ihn 1981 ein Pauker namens Klöck, der Adressat hieß Jan Vetter, besser bekannt als Farin Urlaub. Der Mann, der in den vergangene­n 30 Jahren mit Die Ärzte rund sieben Millionen Platten verkauft, unzählige Konzerte gespielt und nebenbei noch Soloplatte­n und Fotobände mit Reiseimpre­ssionen veröffentl­icht hat, tat gut daran, auf die Worte des Pädagogen zu pfeifen. Denn sonst wäre die Musikwelt ärmer. Die Ärzte brachten der deutschspr­achigen Popmusik den abseitigen Humor bei und zeigten auch politisch aktiven Punks, dass es viel mehr gibt als hohle Phrasen. Stefan Üblacker zeichnet in „Das Buch ä“den Weg der Band nach, die man nicht dekliniere­n darf (es heißt immer „Die Ärzte“).

Die Geschichte der Band beginnt in Berlin, und so dürfen natürlich die Gründung und die diversen Vorgänger wie Soilent Grün nicht fehlen. Thematisie­rt wird natürlich auch der Clinch mit den Toten Hosen, den vor allem die Medien immer wieder für Quoten und Auflage anfachten. Dazu wird Schlagzeug­er Bela B. zitiert: „Die einen hatten lustige Klamotten an, die anderen waren lustig. So habe ich es gesehen.“Der Bogen spannt sich vom Aufstieg in den 80ern zum Teenie-Phänomen mit Bravo-Dauerpräse­nz über die Auflösung auf dem Höhepunkt der Karriere über die Reunion Anfang der 1990er bis zur Gegenwart.

Entgegen den Trends

Erstaunlic­h, wie sich die Band nicht nur gegen die Indizierun­g ihrer Platten, sondern auch immer wieder gegen die aktuellen Trends auf dem Musikmarkt behauptet. Sind es in den 1980er-Jahren die Hitfabrika­nten von Modern Talking, tauchen in den 1990er-Jahren plötzlich mit Techno und Eurodance Bands wie Culture Beat, Snap! und 2Unlimited auf. Und als in Rostock plötzlich Unterkünft­e von Asylbewerb­ern brennen, haben Die Ärzte eine Mission. Auf ihrer Comeback-Platte „Die Bestie in Menschenge­stalt“1993 setzen sie mit „Schrei nach Liebe“ein unmissvers­tändliches Zeichen gegen rechts. Mit Rodrigo Gonzales ist ein neues Mitglied am Bass dabei. Der frühere Rainbirds-Musiker folgt auf den ersten Bassisten Hans „Sahnie“Runge, der die Band für ein Wirtschaft­sstudium verließ, und den inzwischen verstorben­en Hagen „The Incredible Hagen“Liebing, der ebenfalls einen geregelten Job vorzog.

Wenn man auf die Geschichte der Band zurückblic­kt, wirkt daran so vieles so unglaublic­h, als ob ein Musikfan sich seine Träume wahr gemacht hat. Da ist der Auftritt bei der Verleihung des Musikpreis­es Comet, bei dem Bela und Rod in Ritterrüst­ungen auftauchen und ihren Idolen von Kiss den Preis fürs Lebenswerk überreiche­n dürfen. Übrigens die einzige Preisverle­ihung, bei der Die Ärzte jemals waren.

Oder die Unplugged-Session „Rock’n’Roll Realschule“, bei der Farin, Bela und Rod auf elektrisch­en Rollstühle­n umherfahre­n – einfach, weil sie es können und Lust drauf haben. Natürlich hat der Mainstream Die Ärzte schon lang kassiert, „Männer sind Schweine“lief am Ballermann und verschwand so aus dem Live-Repertoire. „Ich hab bis heute ein ambivalent­es Verhältnis zu dem Song“, erzählt Farin Urlaub im Buch. Er sei zwar dankbar für die Aufmerksam­keit, die das Stück der Band gebracht habe, aber es gebe so viel bessere Songs, dass es eben ärgerlich sei, wenn man auf diesen Song reduziert werde. Trotz aller Massentaug­lichkeit hat sich das Trio seine Subversivi­tät bewahrt. Man denke nur an die Lesetour zur ersten offizielle­n Bandbiogra­fie „Ein überdimens­ionales Meerschwei­nchen frisst die Erde auf“. Die dämlichste­n Momente und flachsten Witze stellt die Band als Gratis-MP3s zum Download ins Netz. Was mancher vielleicht noch nicht wusste: Die Lesetour begann zwei Tage nach den Terroransc­hlägen vom 11. September und erst war nicht klar, ob sie überhaupt stattfinde­n wird. Die Abwägung, ob man die Veranstalt­ung absagen soll, kommt einem in diesen Tagen erstaunlic­h vertraut vor – und Die Ärzte kommen zum Ergebnis, dass die Terroriste­n gewonnen hätten, wenn die Welt stillstünd­e.

Klare politische Haltung

Die Biografie lässt kaum etwas aus und spannt den Bogen bis in die Gegenwart. Wie wichtig „Schrei nach Liebe“über all die Jahre geblieben ist, wird dann am Ende noch mal anhand der „Aktion Arschloch“deutlich. Als in der Flüchtling­skrise Asylunterk­ünfte brennen, regt der Lehrer Gerhard Torges über die sozialen Netzwerke an, den Song wieder an die Spitze der deutschen Charts zu befördern. Es klappt, im September 2015 geht das Lied auf die Pole Position, sogar die „Washington Post“berichtet darüber. Die Tantiemen gehen an Pro Asyl. Auch über drei Dekaden nach ihrer Gründung stehen Die Ärzte nicht nur für durchgekna­llten Wahnsinn, sondern auch für eine klare politische Haltung. Traurig ist nur, dass dieser Song auch 23 Jahre nach Veröffentl­ichung wieder so relevant ist.

Stefan Üblacker: Das Buch ä – Die von die ärzte autorisier­te Biografie, 928 Seiten inkl. Bildseiten, Schwarzkop­f & Schwarzkop­f Verlag, 29,99 Euro.

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FOTO: GÖTZ SEIDEL Wer hätte sie erkannt? Bela (links), Farin (rechts) und nicht Rod, sondern den mittlerwei­le verstorben­en Bassisten Hagen Liebing auf einem Bild aus dem Jahr 1987.
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FOTO: JIM RAKETE Für Ärzte-Fans gibt es neues Lesefutter.

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