Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mein Bruder, das Solidarsys­tem und ich

Ein Angehörige­r wird zum Pflegefall: Über den Kampf mit der Medizin-Bürokratie und die Grenzen der eigenen Belastbark­eit

- Von Katja Bauer BERLIN/RAVENSBURG - Journalist­en schreiben nur in Ausnahmefä­llen: „Ich“. Weil zu ihren wichtigste­n Grundsätze­n die Distanz zählt, zu dem, was sie beschreibe­n. Erst die Distanz ermöglicht den objektiven Blick auf Personen, Themen und Gegeb

Katja Bauers Bericht

Inzwischen ist Briefkaste­nöffnen mein Extremspor­t. Wenn ich den Schlüssel ins Schloss stecke, dann geht die Tür zum Bootcamp auf. Es warten Briefe. Von der Krankenkas­se, von Versicheru­ngen, von Banken, vom Amt. Graue Umschläge. Was typisch für die Briefe ist: Selten tragen sie Unterschri­ften. Die Unterzeich­ner heißen: „Ihre Krankenkas­se“, „gez. Rechtspfle­gerin“und manchmal auch „Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt“. Aber das Dokument aufgerufen, ausgedruck­t, in einen Umschlag gesteckt hat ein Mensch. Da bin ich sicher. Auch, weil ich es manchmal doch schaffe, mit diesen Menschen zu telefonier­en. Das ist dann ein kleiner Erfolg. So lange, bis die Menschen sagen, ich möge bitte schreiben. Gut. Das mache ich jetzt mal.

Mein Bruder ist krank. Vor fünf Jahren wurde er als Mann mit 46 Jahren, wie man so sagt, plötzlich aus dem Leben gerissen. Herzstills­tand, Hirnschädi­gung. Wenn Leute mich fragen, wie es ihm geht, frage ich immer, ob sie die kurze oder die lange Version wollen. Die kurze ist – erstens: Das wünscht sich niemand. Zweitens: Dir kann heute dasselbe passieren. Und dir und dir und dir und mir auch.

Ich hoffe für jeden, dass es nicht passiert. Allerdings passiert es in Deutschlan­d mehr als 300 000 Menschen im Jahr – mit ganz unterschie­dlichen Folgen. Das nimmt man nicht so wahr. Man nimmt lieber wahr, dass Männer jetzt Dutt tragen. Ist vermutlich ein ziemlich gesunder Schutzmech­anismus.

Wenn einem so etwas doch passieren sollte, so denkt man, dann hat man ja Familie, man hat Freunde. Man hat Sicherheit­en, man hat irgendwo irgendwas einbezahlt. Und eigentlich denkt man: Es passiert eh nicht. Die Wahrheit ist: Erst hat man kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu. Ich dachte früher immer, dieses berühmte „Solidaritä­tsprinzip“ist das Gegenteil dieser Fußballwei­sheit. Ein Irrtum.

Wenn ein Mensch krank ist, dann kostet ihn das viel Kraft. Aber auch die Menschen um ihn herum. Als Erstes kostet es Kraft zu hoffen. Dann spürt man, dass es anders kommt. Das kostet wieder Kraft. Wenn man weitermach­en will – und man muss ja weitermach­en –, dann kratzt man die Hoffnungsk­rümel irgendwie zusammen und macht aus ihnen einen Berg. Nicht zu hoch, weil: Wer will schon tief fallen? Aber auch nicht zu flach, weil: Den Horizont sieht man nur von der Anhöhe.

Angst vor Verwundbar­keit

Wenn ein Mensch krank ist, halten das viele nicht aus. Sie verschwind­en. Es gibt vermutlich viele Gründe, meistens Angst – vor der eigenen Verwundbar­keit. Und dann auch: keine Lust. Schließlic­h hat jeder viel zu tun und eigene Probleme. Und zuletzt: Keine Ahnung, was ich mit dem reden soll. Es ist nicht leicht, bei einem Menschen zu bleiben, wenn nicht besonders viel von ihm übrig ist. Man muss sich anstrengen. Mein Bruder kann an manchen Tagen nicht viel zurückgebe­n. Er versucht es, schaut einen an, schließt die Augen, macht sie wieder auf. In seinem Gehirn ordnen sich die Gedanken nicht so, dass aus seinem Mund Wörter kommen. Das ist schwer. Es hilft dann auch wenig, sich vorzustell­en, dass er früher so viel gegeben hat. Wie er gelacht hat. „Like champagne bubbles, pop, pop, pop . . . “, wie Tom Waits in einem der Lieblingss­ongs meines Bruders singt.

Manchmal kann er aber doch sehr viel. Was für großartige Momente das sind. Wie hoch der Berg der Hoffnungsk­rümel sich dann türmt. Und wie tief man fällt.

Es gibt Tage, da wacht er komplett auf. Er ist fast er. Stimme, Mimik, Humor, Champagner­lachen, alles da. Er stellt eine Million Fragen – pro Minute. Was genau war, in jener Nacht, als sein Herz stillstand. Erinnert sich an Teile davon – und an sehr viel aus seinem Leben. Er telefonier­t dann. Mit den Menschen, die ihm wichtig sind und die inzwischen irgendwann begonnen haben, einfach weiterzule­ben, so dass sie mit diesem Anruf gar nicht mehr rechnen.

Mein Bruder sagt dann, mit fast fester Stimme: Ich will wach bleiben. Ich habe Angst, wieder unter diese Decke zu tauchen und nicht hochzukomm­en. Ich darf nicht einschlafe­n. Doch irgendwann schläft er ein – und versinkt in einen Zustand, der einer ungewollte­n Apathie gleicht. Er sitzt in einer Kapsel, aus der er herauswill. Für Monate.

Jene Leser, die jetzt noch dabei sind, müssten zugeben: Der Teil klingt spannend, oder? Dachte ich auch. Man stellt sich einen Mediziner vor, der von dem Fall elektrisie­rt ist. Der wissen will, wie er seinen Patienten wieder an den Punkt bringen kann, er selbst zu sein. Man stellt sich vor: Wenn man der Krankenkas­se diese Sache erklärt, wird einem geholfen. Vergessen Sie es. Wir sind allein. Wir – das sind meine Eltern, beide 77 Jahre alt. Sie binden ihrem Sohn die Schuhe zu, zeigen ihm, wie man Butter aufs Brot streicht, fahren ihn zur Physiother­apie, rasten manchmal aus und können nicht mehr. Immer öfter. Wenn sie doch wieder können, dann suchen sie noch im Internet nach irgendwelc­hen Behandlung­smethoden.

Wir – das bin auch ich. Ich bin seine kleine Schwester, lebe 700 Kilometer von meinem Bruder entfernt und bin seine gesetzlich­e Betreuerin. Ich habe ein Jahr darum gekämpft, dass das Gericht diese Aufgabe nicht an einen „Profi“übergibt, der sich um ungefähr 400 Menschen gleichzeit­ig kümmert. Mein Vorteil: Ich koste keinen Pfennig. Ich bin auch mit dieser Aufgabe nicht die Einzige: Mehr als eine Million Menschen in Deutschlan­d stehen unter gesetzlich­er Betreuung.

Wenn ich meinen Bruder vertreten will, ist das allerdings ziemlich schwierig. Keiner glaubt mir. Ich muss mich ständig rechtferti­gen. Bekomme keine Auskunft. Das Betreuungs­gericht möchte centgenaue Abrechnung­en. Wenn ich eine Frage habe, warte ich Monate auf eine Antwort. Bei Banken muss ich mich persönlich vorstellen, um zu erfahren, ob er möglicherw­eise Konten bei ihnen hatte. Manchmal reicht das nicht. Dann muss ich zum Notar gehen und dort feststelle­n lassen, dass ich ich bin. Kostet 67 Euro. Ein Taschenbuc­h von Franz Kafka ist viel billiger.

Das Solidarsys­tem fragt Angehörige wie mich nicht, ob es ihnen dabei helfen kann – emotional schon gar nicht, aber auch nicht in der Sache. Überall gibt es Hotlines, Tutorials, „howtos“. Den Medizinisc­hen Dienst der Krankenkas­se kann man nicht mal anrufen. Er hat angeblich kein Telefon. Kein Scherz.

Ich weiß, dass das deutsche Gesundheit­ssystem gut ist. Es ist besser als die meisten. Woanders ist es viel schlechter. Ich will nicht undankbar sein. Und es gibt auch großartige Menschen, die helfen, zum Beispiel bei der Hannelore-Kohl-Stiftung für Menschen mit Schädelhir­nverletzun­gen. Sie tun es ehrenamtli­ch oder von Spendengel­dern bezahlt. Aber insgesamt ist es doch so: Mit der Katastroph­e, die über die in Deutschlan­d pflegenden Angehörige­n hereinbric­ht, sollen diese bitte mal so eben fertig werden.

Recht auf ein paar Krümel

Vielleicht sollten wir das Wort Solidarsys­tem einfach aus unseren Gesprächen streichen. Aufrichtig­er wäre: Menschen-Kosten-Nutzen-Analyse. Steht im Prinzip sogar im Gesetz. Da wird fein unterschie­den. Es gibt ein Recht auf berufliche Teilhabe. Und wenn man nicht mehr arbeiten kann? Also, anders gesagt: Wenn man nix mehr bringt? Dann bleibt das Recht auf gesellscha­ftliche Teilhabe. Es ist ein recht kleines Recht, wie sich herausstel­lt. Ein Recht auf ein paar Krümel, würde ich sagen. Wie groß es wird, hängt nicht vom Gesetz ab und nicht von den Institutio­nen. Wenn man kein Glück hat, ist man so krank, dass man einen Dachschade­n hat. Wenn man dazu noch Pech hat, kämpft keiner für einen.

Viele, sehr viele Angehörige kämpfen. Das weiß ich aus Facebook-Gruppen und Foren. Von den Klinikflur­en, in denen ich sitze. Aus Gesprächen mit Müttern, Vätern, Schwestern, Brüdern. Man gibt einander dann Tipps. Etwa: Für Beatmung ist das Gerät X schlechter als Y, du musst das und das tun, um die Finanzieru­ng von der Kasse zu bekommen. Aber auch: Ich kann nicht mehr, manchmal denke ich, ich würde gern einfach nur weglaufen.

Egal was der Mensch hat, der krank ist – immer wieder höre ich einen Satz: Es ist sowieso schon so schwierig, wie sehr würde ich mir ein System wünschen, das mich unterstütz­t. Eine Krankenkas­se, die hilft statt blockt. Einen Medizinisc­hen Dienst, den man wenigstens anrufen kann, wenn er mal wieder den Antrag auf Reha abgeschmet­tert hat. Hilfe. Den Rest machen wir schon.

Man könnte was machen

Neulich hatte mein Bruder wieder einen wachen Tag. Wir hatten riesiges Glück. Denn an diesem Tag hatte ein Arzt – ein Facharzt – Zeit, sich ihn anzusehen. Der war fassungslo­s: So was hatte er noch nie gesehen! Man könnte was machen! Endlich könnte mein Bruder – nach fünf Jahren – einen Platz in einer ambulanten Tagesklini­k bekommen. Er könnte vielleicht andere Patienten treffen. Kontakt aufnehmen. Irgendwie einen Zipfel Leben in die Hand nehmen. Und wer weiß. Ihn vielleicht sogar festhalten? Hoffnung! So viele Krümel! Ein Riesenberg!

Natürlich habe ich einen Antrag gestellt. Der Hausarzt ebenfalls. Formular 61. Im März. Wir haben jetzt Mai. Ich weiß nicht, ob sich mein Bruder noch an jenen wachen Tag erinnern kann. Er spricht kaum.

Gestern klingelte das Telefon. Eine Frau von der Krankenkas­se war dran. Ein echter Mensch. Sie rief extra an, um zu sagen, dass sie den Antrag ablehnt. Ich fragte, warum. Sie sagte, das wisse sie nicht. Das stehe in den Unterlagen. Sie habe die Unterlagen nicht. Ich könne diesen Unterlagen selbstvers­tändlich widersprec­hen – sobald sie wieder bei mir eingetroff­en seien. Sie habe nur die Anweisung anzurufen. Als echter Mensch.

Ich sagte: Kann ich Ihnen eine Frage stellen? Ja, sicher, sagte sie. Ich fragte: Wollen Sie meinem Bruder eigentlich irgendwie helfen? Die Frau sagte, die Frage könne sie jetzt so nicht beantworte­n.

Vorhin war ich am Briefkaste­n. Die Unterlagen sind da. Es ist ein Brief, den kein echter Mensch geschriebe­n haben kann. Das weiß ich, weil ich ihn schon ein paar Mal bekommen habe. Die Kurzversio­n: „Keine positive Prognose.“Mein Bruder bringt nichts mehr. Erst hatte er kein Glück. Jetzt ist das sein Pech.

Natürlich steht es mir frei, Widerspruc­h einzulegen. Fristgerec­ht. „Mit freundlich­en Grüßen, Ihre Krankenkas­se.“

Nachtrag

Nach Veröffentl­ichung des Textes im Internet rief ein Vertreter der Kasse an und entschuldi­gte sich. Er bat um ein neues ärztliches Gutachten und bot an, den Antrag auf Reha erneut zu prüfen. Dieses Recht hat ohnehin jeder Versichert­e, der einer Ablehnung widerspric­ht.

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FOTO: PRIVAT Katja Bauer mit ihrem Bruder, der vor fünf Jahren einen Herzstills­tand erlitt und seitdem ein Pflegefall ist.

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