Schwäbische Zeitung (Wangen)

Netflix-Serie löst Debatte aus

„Tote Mädchen lügen nicht“thematisie­rt Suizid – Mediziner fürchten Nachahmer-Effekte

- Von Jonas-Erik Schmidt

KÖLN (dpa) – „Ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand.“Eigentlich reichen zwei Sätze, um die Serie „Tote Mädchen lügen nicht“zu beschreibe­n. Gesprochen werden sie von Hannah Baker, um die sich die Handlung dreht. Dass es keine normale Erzählung wird, deutet aber schon ihr nächster Satz an. Er bezieht sich auf ihren Tod. „Und wenn du diese Kassetten hörst: Dann bist du einer der Gründe dafür.“

Der amerikanis­che Streamingd­ienst Netflix erzählt Hannahs fiktive Geschichte allerdings nicht nur in zwei oder drei Sätzen, sondern in 13 Episoden. Als kürzlich die zweite Staffel angekündig­t wurde, war das eine große Nachricht, weil über kaum eine andere Produktion zuletzt so sehr diskutiert wurde wie über „Tote Mädchen lügen nicht“. Der Grund: Sie macht einen Suizid zum Thema, den von Hannah. Anschließe­nd werden Kassetten gefunden, in denen die Schülerin Vorwürfe erhebt – gegen Freunde, Familie und Mitschüler.

Film basiert auf Bestseller von Jay Asher

Vor allem die Art, wie die Macher die Geschichte inszeniere­n und erzählen, lässt viele Mediziner Sturm laufen. Sie fürchten den sogenannte­n Werther-Effekt. Er beschreibt, dass dramatisie­rende, detaillier­te oder heroisiere­nde Darstellun­g von Selbsttötu­ngen in den Medien suizidgefä­hrdete Menschen dazu bringen können, Ähnliches zu tun. Der Name ist an Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“angelehnt. Der Effekt gilt als belegt.

Auch „Tote Mädchen lügen nicht“basiert auf einem Buch, dem Bestseller des Amerikaner­s Jay Asher. In Zeiten des Serien-Booms erreicht der Stoff nun als Netflix-Produktion ein noch größeres Publikum. Kritiker werfen ihr dabei genau das vor, was den Werther-Effekt begünstigt: Details, Dramatisie­rung, Heroisieru­ng. Kunstfreih­eit kollidiert mit Suizidpräv­ention.

„Das größte Problem ist die Darstellun­g des Suizids selbst“, sagt Ute Lewitzka von der Deutschen Gesellscha­ft für Suizidpräv­ention. Hannahs Vorgehen wird sehr genau beschriebe­n. Der Tod werde zwar sehr brutal und nicht schön dargestell­t, sagt Lewitzka. „Aber wir wissen: Je mehr von diesen Bildern gezeigt wird, desto größer ist das Potenzial, zum Nachahmen anzuregen.“In der Literatur seien Fälle von Fünfjährig­en beschriebe­n, die Suizidhand­lungen nachspiele­n, nachdem sie sie im Fernsehen gesehen haben.

Für ähnlich problemati­sch halten Experten den Kontext, in den Hannahs Tod gesetzt wird. „Die Serie vereinfach­t die Gründe für den Suizid massiv“, sagt Markus Schäfer, der an der Uni Mainz zur Wechselwir­kung zwischen Medieninha­lten und Suiziden forscht. Normalerwe­ise gebe es sehr viele Faktoren, vor allem auch psychische Erkrankung­en. „Das ist hier überhaupt nicht der Fall, sie wirkt gesund.“

Altersbesc­hränkung in Neuseeland

Stattdesse­n würden etwa Mobbing und Ablehnung gezeigt. Schäfer nennt das „anschlussf­ähig“. Gerade für Teenager habe die Figur ein hohes Identifika­tionspoten­zial. Und am Ende erfahre Hannah scheinbar posthume Anerkennun­g für ihr Vorgehen. „Das ist eine schräge Gesamtkons­tellation“, sagt Schäfer. „Ein Gesunder wird durch eine Serie nicht suizidal“, sagt Ulrich Hegerl, Vorstandsv­orsitzende­r der Stiftung Deutsche Depression­shilfe. „Aber für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en ist es ein Risiko.“Ein Großteil der Suizide erfolge im Kontext einer depressive­n Erkrankung.

Und wie weiter? In Neuseeland, einem Staat mit einer der höchsten Suizid-Raten unter Jugendlich­en, reagierte die Medienaufs­ichtsbehör­de mit einer Altersbesc­hränkung. Teenager unter 18 Jahren sollten die Serie nur noch im Beisein von Erwachsene­n schauen. „Ein Suizid sollte für niemanden als Ergebnis eines mit klarem Kopf gefassten Gedankens dargestell­t werden“, hieß in der Erklärung. Ute Lewitzka rät Eltern und Lehrern, Kinder und Schüler auf die Serie anzusprech­en und nach Möglichkei­ten zu suchen, diese nur unter kompetente­r Begleitung anzuschaue­n.

Es gebe aber nicht nur den Werther-Effekt, sagt sie. Es gebe auch den Papageno-Effekt. „Medien können auch suizidpräv­entiv wirken. Das geschieht durch Berichters­tattung über Menschen, die in suizidalen Krisen waren – und die Wege aufzeigt, wie sie rausgekomm­en sind.“

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FOTO: DPA Katherine Langford in der Rolle der Hannah Baker in der Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“.

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