Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Die Verantwort­ung liegt in erster Linie bei den Eltern“

In Deutschlan­d hat die Serie keine Altersbesc­hränkung - Interview mit der Kommission für Jugendmedi­enschutz

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BERLIN (dpa) – Cornelia Holsten, Vorsitzend­e der Kommission für Jugendmedi­enschutz (KJM) erklärt im Interview, was sie an der Diskussion wundert und warum die Serie in Deutschlan­d keine offizielle Altersfrei­gabe hat.

Es gibt viel Kritik an der Serie „Tote Mädchen lügen nicht?“. Wie ernst nehmen Sie das?

Das Fasziniere­nde an der Kritik ist, dass „Tote Mädchen lügen nicht“seit Jahren als Schullektü­re in der Mittelstuf­e gelesen wird, ohne dass das je zu einem Aufschrei geführt hätte über diesen Roman. Das zeigt, dass Bewegtbild immer viel viel wirkmächti­ger ist. Es ist interessan­t, das zu sehen, wenn man einen Schritt zurückgeht und von draußen draufschau­t und sich fragt, was geht da eigentlich ab. Dann finde ich total interessan­t, dass es jetzt diesen Aufschrei gibt und zum Beispiel nicht beim Start der vierten Staffel von „Breaking Bad“. Da könnte man sicher auch viele Fragen in Richtung Jugendmedi­enschutz stellen. Und ausgerechn­et hier ist das ein so großes Thema.

Woran liegt das?

Ich glaube, dass das Tabuthema Suizid sich noch mehr für eine öffentlich­e Diskussion eignet als beispielsw­eise die Produktion von Chrystal Meth bei „Breaking Bad“. Es ist ein Thema, bei dem man so wahnsinnig gerne Patentreze­pte hätte, wie man damit umgehen soll. Wir haben als KJM leider durchaus häufiger mit dem Thema Suizid oder Suizidanle­itungen in entspreche­nden Foren zu tun, die oft sehr schrecklic­h und extrem gefährlich sind, weil sie den Suizid als etwas Erstrebens­wertes und Ehrenhafte­s darstellen.

Wie ist die Serie im Vergleich dazu, sehen Sie das problemati­sch?

Zu der Serie gab es bisher kein KJMPrüfver­fahren. Aber es gab bisher auch keine einzige Beschwerde. Wenn wir zum Beispiel eine Anleitung zum Suizid in der Serie gesehen hätten, hätten wir schon anders reagiert. Was ich getan habe, ist, Kontakt mit der niederländ­ischen Medienaufs­ichtsbehör­de aufzunehme­n, wie Netflix sich positionie­rt, die haben ihren Europasitz in Holland. Da wurde bestätigt, dass Netflix großes Interesse am Nutzerschu­tz hat. Sie haben auch die letzten Folgen mit einem Warnhinwei­s versehen. Und man muss das Thema auch anders sehen, als wenn es im Fernsehen laufen würde.

Warum eigentlich?

Sie haben hier die Situation, dass der On-Demand-Anbieter im Ausland sitzt, und er nutzt eine Kindersich­erung, eine Pin, sodass die Verantwort­ung in erster Linie bei den Eltern liegt, die die Pin an ihre Kinder weitergebe­n. Ich halte es für wichtig, den Eltern zu sagen: Wenn ihr das macht und eure Kinder sind noch jung, dann ist das so, wie dem Kind im Auto zu sagen „Du musst dich nicht anschnalle­n.“

Die Eltern geben den Kindern den Pin vermutlich und wissen dann oft gar nicht, dass die dann „Tote Mädchen lügen nicht“gucken.

Ja, und das ist wirklich leichtsinn­ig. Wenn Eltern nicht mehr wissen, womit sich die Pubertiste­n gerade befassen. Und wenn man sich vergegenwä­rtigt, dass in der Pubertät ohnehin eine erhöhte Suizidneig­ung besteht, dann muss man sehr wach sein als Eltern. Und wenn man diese Risiken nicht eingehen will und die Serien nicht sehen will, darf man den Pin eben nicht weitergebe­n. Kinderund Jugendschu­tz macht Mühe. Den besten Schutz als Eltern habe ich, wenn man Mediennutz­ung zusammen trainiert. Bei dieser Serie ist das besonders relevant.

Die Serie hat in Deutschlan­d keine Altersfrei­gabe, wie es sie von der FSK geben würde, wenn es zum Beispiel ein Kinofilm wäre.

Der Hauptgrund, warum sie bei uns keine Altersgren­ze hat, ist, dass es sich um einen Streaming-Anbieter handelt, der seinen Sitz zudem im Ausland hat. Darum wäre es eigentlich am besten, Netflix würde sich der passenden Selbstkont­rolleinric­htung anschließe­n, das wäre hier die FSM (Freiwillig­e Selbstkont­rolle Multimedia-Diensteanb­ieter). Dass Netflix den Sitz im Ausland hat, steht dem nicht entgegen.

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