Die Liebe erstickt in Tristesse und Gewalt
Tschaikowskys „Pique Dame“wird an der Staatsoper Stuttgart bejubelt
STUTTGART - Einhellig feierte das Premierenpublikum die letzte Neuproduktion der Staatsoper Stuttgart in dieser Saison. Intendant Jossi Wieler, Chefdramaturg Sergio Morabito und die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock haben diesmal Pjotr Tschaikowskys Oper „Pique Dame“inszeniert. Tosenden Beifall gab es nicht nur für die Gesangssolisten, für den Opern- und den Kinderchor samt ihrem Leiter Johannes Knecht sowie für das Orchester und seinen Chefdirigenten Sylvain Cambreling, sondern auch für das bewährte Regieteam.
Das 1890 in Petersburg uraufgeführte Musikdrama handelt von Liebe, Sucht und Wahn. Als Vorlage hat Alexander Puschkins gleichnamige Erzählung „Pique Dame“von 1833 gedient. Tschaikowsky ließ sich den Text von seinem jüngeren Bruder Modest zur Vertonung einrichten. In der Hauptfigur German erkannte er auch eigene Züge und wertete den bei Puschkin recht unsympathisch gezeichneten Protagonisten auf. Gleichwohl ist dieser auch in der Oper ein gefährlicher Borderliner und spielsüchtiger Verbrecher, der seine Geliebte Lisa nur benützt, um an das Kartengeheimnis der alten Gräfin zu kommen.
Genialer Kunstgriff
Lisa hat sich zu Beginn der Oper mit dem Fürsten Jeletzki verlobt, fühlt sich aber von der Leidenschaft Germans angezogen. Dessen Liebe tritt jedoch zunehmend hinter pathologischer Spielsucht zurück. Die Gräfin soll im vorrevolutionären Paris als junge Schönheit den Männern die Köpfe verdreht haben. Graf SaintGermain verriet ihr einst für eine Liebesnacht drei Karten, die ihr im Spiel stets Glück und daher den Beinamen Pique Dame einbrachten. Inzwischen ist sie Lisas Großmutter, doch die Leute tratschen immer noch über ihre Vergangenheit.
Lisa verlässt den generösen Jeletzki. Zu spät erkennt sie Germans wahnhaften Charakter und nimmt sich verzweifelt das Leben. Im finalen Spiel gegen den Fürsten setzt German am Ende auf die falsche Karte und hat alles verloren. Wieler, Morabito und Viebrock haben diese Geschichte schlüssig in eine postsowjetische Gegenwart verlegt und erzählen sie als buchstäblich auf Hintertreppen spielenden Kolportageroman – ein genialer Kunstgriff, der es erlaubt, operntypische Klischees ohne Verfremdung oder Umdeutung triftig in unsere Zeit zu verpflanzen.
Permanent kreist auf Viebrocks Drehbühne das Karussell vorstädtischer Tristesse, in der Gewalt normal und für romantische Liebe kein Platz ist. Heruntergekommene Plattenbaufassaden mit rostigen Feuertreppen erheben sich über Resten eines alten Adelspalasts, der zu Sowjetzeiten zum Kino umfunktioniert worden sein muss. Jetzt stehen auch davon nur noch wenige Mauern mit abbröckelndem Stuck, Rissen in der Wand und verblasster Bemalung. Ein paar rote Plüschsessel sind stehengeblieben. Davor erstreckt sich ein verdreckter Hinterhof, auf dem Erwachsene rauchend und saufend herumhängen und Schulkinder gedrillt werden.
Aus glorreicheren Zeiten ist noch ein Windfang mit verzierten Holztüren da. Das stark lädierte Teil sieht aus wie ein profanes Tabernakel und kann auf Rädchen als horizontaler Fahrstuhl herumgeschoben werden. Hier verkehren Arbeitslose, Mafiosi und Kleinkriminelle mit schmutzigen Mänteln, Hochwasserhosen und brutalen Umgangsformen. Frauen tragen Kittelschürzen, Kopftücher und Jacken aus der Altkleidersammlung. German bedroht Lisa mit dem Klappmesser, erpresst sie sadistisch, vergewaltigt sie und jammert dabei noch über sein eigenes Schicksal. In Stuttgart geht ihm jegliche dämonische Ausstrahlung als Verführer ab.
Erin Caves meistert sein Debüt als German achtbar, forciert aber im hohen Register zu Lasten der Intonation. Rebecca von Lipinski begeistert als anrührende Lisa, Shigeo Ishino als sonor tönender Jeletzky, Helene Schneiderman als schnapssaufende Gräfin der Straße – eine alte Vettel im verschlissenen Pelz, die mit Obdachlosen bechert. Auch Vladislav Sulimsky (Tomski), Torsten Hofmann (Tschekalinski), David Steffens (Surin), Gergely Németi (Tschaplitzki), Stine Marie Fischer (Polina) und Yuko Kakuta (Mascha) singen hervorragend.
Sylvain Cambreling dirigiert Tschaikowskys stilpluralistisch schillernde Partitur mit ihren Rückgriffen auf Frühklassik und ihren expressionistischen Ausbrüchen prägnant. Zwischendurch darf es deftig krachen, und bei rhythmisch heiklen Passagen mangelt es an Präzision. Die einheitliche Atmosphäre von Viebrocks Szenerie harmoniert ideal mit eng an die Musik gebundener Personenführung, brillanten darstellerischen Leistungen und intelligenten Regiebezügen zum geistesgeschichtlichen Kontext der Oper.