Schwäbische Zeitung (Wangen)

OECD beklagt großen Niedrigloh­nsektor

Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf – Stress in Deutschlan­d größer

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BERLIN - Rekordbesc­häftigung, gute Löhne und hohe Jobsicherh­eit: Auf den ersten Blick stellt die Organisati­on für Wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) der Bundesrepu­blik ein hervorrage­ndes Arbeitsmar­ktzeugnis aus. Doch zeigte OECD-Generalsek­retär Angel Gurría bei der Vorstellun­g des Beschäftig­ungsausbli­cks in Berlin auch große Schwächen Deutschlan­ds auf. Der Stress in vielen Jobs sei höher als in anderen Ländern, die Kluft zwischen dem Verdienst von Frauen und Männern besonders groß, und Arbeitsplä­tze mit mittlerer Qualifikat­ion brechen weg. Tobias Schmidt hat Fragen und Antworten.

Wie ist der deutsche Arbeitsmar­kt im internatio­nalen Vergleich?

Mit einer Beschäftig­ungsquote von 66 Prozent liegt Deutschlan­d über dem OECD-Durchschni­tt von 61 Prozent. Die Arbeitslos­enquote wird nach den Berechnung­en bis Ende 2018 auf 3,7 Prozent sinken, einem der besten Werte unter den Industrien­ationen. Die Einführung des Mindestloh­ns hat laut OECD den Rückgang der Arbeitslos­igkeit nicht gebremst. Das Lohnwachst­um werde von derzeit zwei Prozent auf 2,5 Prozent ansteigen, bleibe damit aber weiter „verhalten“, bilanziere­n Wirtschaft­sexperten. Zwar sind die Löhne in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich gut. Doch beklagt die OECD einen großen Niedrigloh­nsektor. Vor allem ältere Arbeitnehm­er und Zweitverdi­ener hätten gering entlohnte Stellen. „Der Anteil der Menschen mit niedrigem Einkommen liegt höher als in Frankreich und ist doppelt so hoch wie in Island.“

Wo liegt die größte Schwäche des deutschen Arbeitsmar­ktes?

Wenn es um gleiche Einkommen von Frauen und Männern geht, schneidet Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich besonders schlecht ab, landet sechs Punkte unter dem Durchschni­tt. Die OECD führt dies allerdings nicht auf eine unterschie­dliche Bezahlung für gleiche Arbeit zurück, sondern darauf, dass Frauen in Deutschlan­d weniger arbeiten als in anderen Ländern. Um das zu ändern, empfiehlt die OECD die Abschaffun­g des Ehegattens­plittings. Eine niedrigere Besteuerun­g von Zweitverdi­enern könne den Anreiz zur Vollarbeit erhöhen.

Was ist mit der Belastung im Job?

Beim arbeitsbed­ingten Stress liegt Deutschlan­d über dem Durchschni­tt. Hierzuland­e gibt es im Vergleich mehr Jobs, in denen die Arbeitnehm­er den Anforderun­gen kaum gerecht werden. 46 Prozent der Beschäftig­ten stufen die Belastung als hoch ein, fünf Punkte mehr als im OECD-Mittel.

Wie beeinfluss­en technische­r Fortschrit­t und Globalisie­rung den Arbeitsmar­kt?

In den vergangene­n 20 Jahren sind Jobs für Arbeitnehm­er mit mittlerer Qualifikat­ion weggebroch­en. Um 8,1 Prozent ging die Zahl der Stellen in Deutschlan­d seit 1995 zurück. Im gleichen Zeitraum gab es ein Plus bei Jobs für Hoch- und Geringqual­ifizierte von 4,7 beziehungs­weise 3,4 Prozent. Die OECD warnt eindringli­ch vor einem Auseinande­rklaffen des Arbeitsmar­ktes durch den Verlust von Mittelschi­cht-Jobs.

Ist der Arbeitsmar­kt Wahlkampft­hema?

Nahles plädiert weiter für ein Rückkehrre­cht von Teil- in Vollzeit, weil Frauen oft gegen ihren Willen nicht in Vollzeit arbeiten könnten. „Wir unterstütz­en Sie“, pflichtete OECDChef Gurría bei. Die Union hatte einen entspreche­nden Gesetzentw­urf abgewehrt, weil ihr die Auflagen für kleinere Unternehme­n zu weit gingen. Überdies warb Nahles für den Plan, für Arbeitnehm­er ein Konto mit bis zu 20 000 Euro einzuricht­en (siehe untenstehe­nde Meldung).

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FOTO: DPA Beim Thema Rückkehrre­cht von Teil- in Vollzeit einer Meinung: Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles (SPD) und OECD-Generalsek­retär Angel Gurría.

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