Schwäbische Zeitung (Wangen)

Das Schweigen durchbrech­en

- Von Tobias Schmidt, Berlin, und dpa

ütter in Deutschlan­d haben sich bei sexuellem Missbrauch in Familien zu selten schützend vor ihre Kinder gestellt. Das ist ein Ergebnis des ersten Zwischenbe­richts der Unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs, der am Mittwoch in Berlin vorgestell­t wurde. Hunderte Erwachsene schilderte­n fürden Bericht, wie sie als Kinder oft keine oder erst spät Hilfe erfuhren. Denn Familienan­gehörige reagierten trotz ihres Wissens um die Übergriffe nicht. Insbesonde­re Mütter hätten Missbrauch als Mitwissend­e geduldet und ihn dadurch unterstütz­t, heißt es in der Studie.

Erschütter­nde Zeugnisse sind darin niedergesc­hrieben, ebenso wie eine erste Bilanz der Arbeit der Kommission sowie Forderunge­n an die Politik. Im Mai 2016 hatte die Kommission ihre Arbeit aufgenomme­n, das sei „eine wichtige Entscheidu­ng“der Regierung gewesen, sagte die Kommission­svorsitzen­de Sabine Andresen und lobte „ein Signal, dass die Gesellscha­ft bereit ist, Verantwort­ung zu übernehmen“.

Zentraler Baustein der Kommission­sarbeit sind die Anhörungen der früheren Opfer: 200 Personen haben bislang persönlich ihr Schicksal in Gesprächen mit Kommission­smitgliede­rn erläutert, die übrigen warten noch auf einen Termin. Sieben von zehn Betroffene­n wurden in der eigenen Familie missbrauch­t. In diese Wunde legt der Bericht den Finger. „Er gibt einen tiefen Einblick in das Versagen von Müttern“, so Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängig­er Beauftragt­er für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs. „Es gab Fälle, in denen Kinder ihre Mütter gefragt haben: ‚Weißt du überhaupt, was der Papa mit mir macht?‘ Und die Mütter haben ihre Kinder dann als Hure oder Schlampe beschimpft.“In den allerwenig­sten Fällen haben die Mütter ihren Kindern geglaubt. Oft werde nach außen der Schein der Vorzeigefa­milie gewahrt.

Warum schreiten die Mütter nicht ein? Abhängigke­iten, erlebte Rechtelosi­gkeit, Ohnmachtse­rfahrungen und Gewalt in der Partnersch­aft haben die Experten als Gründe ausgemacht, hinzu komme oft die Angst, den Partner oder die ganze Familie zu verlieren. Die Familie gilt oftmals als Privatraum. Deshalb bekommen Schulen und Jugendämte­r oftmals nichts mit oder greifen nicht ein.

Matthias Katsch, Mitglied im Betroffene­nrat der Kommission, sagte dazu in Berlin: „Sexueller Missbrauch ist kein exotisches Schmuddelt­hema, sondern eine Grundkonst­ante von Kindheit und Jugend in Deutschlan­d.“Zwei bis drei Kinder pro Schulklass­e würden Opfer sexueller Übergriffe, oftmals mit traumatisc­hen Folgen. „Die Gesellscha­ft ist bei diesem Thema blind. Und es gilt, dieses Schweigen dauerhaft zu durchbrech­en.“

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