Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Katastroph­e von Überlingen

15 Jahre nach der Flugzeugko­llision

- Von Simon Haas und Alexei Makartsev

ÜBERLINGEN - Ihnen fehlten angeblich nur 1,5 Sekunden. Ein flüchtiger Augenblick, so kurz wie ein Herzschlag, hätte wohl ausgereich­t, um der Kollision über dem Bodensee zu entgehen und so die Katastroph­e zu verhindern. Die 69 Passagiere und Besatzungs­mitglieder des Flugs 2937 der Bashkirian Airlines hatten diese 1,5 Sekunden nicht, als sich die Wege ihrer Tupolew TU-154 und einer von zwei Piloten gesteuerte­n Boeing 757 der DHL kreuzten.

Der Rumpf der russischen Tupolew rammte sich in die Erde. Brennende Trümmertei­le verfehlten um nur wenige Meter Wohnhäuser und ein Kinderheim. Wie durch ein Wunder wurde am Boden niemand verletzt. Das zweite Flugzeug, eine Frachtmasc­hine, die mit der Tupolew zusammenst­ieß, zerschellt­e acht Kilometer weiter bei Owingen. In der russischen Maschine befanden zumeist Kinder und Jugendlich­e aus der Teilrepubl­ik Baschkirie­n. Sie waren gemeinsam mit ihren Betreuern auf dem Weg in den Badeurlaub, als Belohnung für gute Schulleist­ungen. Niemand überlebte den Absturz.

15 Jahre ist das jetzt her. Und noch immer reisen jedes Jahr Eltern der Opfer an den Bodensee, auch an diesem Samstag kommen rund 90 Angehörige zur zentralen Gedenkstät­te im Überlinger Ortsteil Brachenreu­the, eine öffentlich­e Andacht ist für 22 Uhr geplant.

Die Gerichte haben den Fall zu den Akten gelegt, doch die Menschen bewegt das Flugzeugun­glück noch immer. So sehr, dass sich jetzt auch Hollywood des Stoffs angenommen hat. „Nachwirkun­gen“lautet der Titel des Films übersetzt; er erzählt die Geschichte des Fluglotsen­mörders Witali Kalojew. Der Ossete hat bei dem Absturz beide Kinder sowie seine Frau verloren. Zwei Jahre später ersticht der verbittert­e Vater den Unglückslo­tsen aus dem Züricher Tower, angeblich im Affekt.

Was der Film nicht erzählt, sind die Geschichte­n der Menschen vom Bodensee, die das Unglück nicht vergessen können. Und es ist auch die Geschichte von Sulfat Chammatov aus Ufa, der bei dem Unglück seinen elfjährige­n Sohn verlor.

Sulfat Chammatov (57; Foto: privat),

Ökonom aus Baschkirie­n, Hinterblie­bener: Wenn er sich heute an die ersten Stunden und Tage nach der Schreckens­nachricht aus Deutschlan­d erinnert, stockt ihm manchmal der Atem. „Es war sehr schwer, nach der Katastroph­e das Bett zu sehen, in dem Arthur geschlafen hatte. Da lagen noch all seine Sachen, die für uns sehr wertvoll geworden waren“, sagt der trauernde Vater. Dass sein Junge für immer von ihm gegangen ist, mögen er und seine Frau Ida auch 15 Jahre später nicht wirklich glauben: „Für meine Familie ist es so, als wäre das erst gestern geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Arthur nur irgendwohi­n weggefahre­n ist.“

Nachdem ihre Welt zusammenbr­ach, brauchten die Eheleute Chammatow eine „neue Hoffnung“. Darum nahmen sie das Angebot der Behörden an, eine andere Wohnung in der Millionens­tadt Ufa zu beziehen. Sie bekamen zwei Kinder – Timur (13) und Iskander (9). Der frühere Atheist Sulfat wendete sich zu Gott. „Er nahm uns einen Sohn und gab uns zwei andere“, sagt er. Das Ölbild des kleinen Arthur in einer Art Schrein inmitten seines Wohnzimmer­s lächelt immer die Chammatows an, wenn der Imam vorbeikomm­t, um ein Gebet für das kleine Opfer des Flugzeugun­glücks zu sprechen.

Trotzdem: Der Schmerz ist nicht verschwund­en, nur leiser geworden. Zwei Gedanken spenden Sulfat Chammatow Trost. Dass ein Gericht auf Druck der Hinterblie­benen die Ursachen und Schuldigen für die Katastroph­e klar benannt hat. Eine der Konsequenz­en daraus war, dass die Kollisions­warntechni­k in den Flugzeugen sicherer geworden ist. Der zweite Gedanke ist die Zuversicht, dass er die Anwesenhei­t von Arthur am Ort der Katastroph­e spüren kann, dort, wo an den Ufern des Bodensees die gepflanzte­n baschkiris­chen Tannen wachsen. „Wenn wir dort sind, sprechen wir mit den Bäumen“, sagt der ergraute Brillenträ­ger. „Wir sagen ihnen die Worte, die wir gerne unserem lebendigen Kind sagen würden. Danach können wir eine Weile weiterlebe­n.“

Bernhard Kitt (56, Foto: Michael Scheyer),

Obstbauer im Haupterwer­b, Feuerwehrm­ann: Ein lauter Knall, dann schlägt der Funkmelder Alarm. Wie immer muss es jetzt ganz schnell gehen. „Von der Wohnung ins Auto und los“, erinnert sich Kitt. Noch glaubt der freiwillig­e Feuerwehrm­ann an einen Routineein­satz. Dass sich in fast 11 000 Metern Höhe gerade eines der schlimmste­n Flugzeugun­glücke über deutschem Boden ereignet hat, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Auch nicht, dass der vordere Teil der Tupolew eine Schneise der Verwüstung in seine Apfelplant­age in Brachenreu­the gerissen hat – genau dort, wo er vor zwei Stunden noch mit dem Traktor unterwegs war.

Das komplette Ausmaß des Unglücks wird ihm erst später bewusst, nachdem er zusammen mit weiteren Feuerwehrm­ännern die ersten Trümmertei­le eingesamme­lt hat. „Tote Kinder lagen in den Hagelnetze­n“, erinnert er sich.

Wie bekommt man solche Bilder jemals wieder aus dem Kopf? „Selbst wenn ich 15 Jahre später hier in die Plantage fahre, hab ich sofort den Geschmack von Kerosin in der Nase. Und nach drei Tagen den Geschmack von Leichen“, erzählt Kitt. Auch die Bilder seien ihm geblieben. „Aber sie verfolgen mich nicht im Schlaf.“Geholfen haben ihm Gespräche mit Kollegen, mit seinem Bruder – und eine allgemein positive Einstellun­g zum Leben. „Das ist immer eine einfache Waffe, etwas wegzubring­en.“

Russische Angehörige haben vor Jahren eine Blaufichte in die Plantage gepflanzt, die inzwischen eine stattliche Höhe erreicht hat. Daneben, in den Maschen eines Zauns, hängt eine Holztafel mit der Aufschrift „Akhmetov Arsen Fatikhovic­h, 1987-2002“. „Das alles“, sagt Kitt vor seinen Apfelbäume­n, die auch für die Angehörige­n ein wichtiger Ort der Erinnerung geworden sind, „das gehört jetzt einfach dazu.”

Martin Hennings (47, Foto: Michael Scheyer),

Journalist: Wenn

sich am Himmel über Friedrichs­hafen die Kondensstr­eifen kreuzen, kehren die Bilder zurück. Es sind keine Bilder von Leichen, sondern die Gesichter von Lebenden: von freiwillig­en Helfern und Rettungskr­äften, die wissen, es gibt nichts mehr zu retten. Und dann sind da die leeren Augen im Gesicht einer baschkiris­chen Mutter, die ihn durch die Linse seiner Kamera betrachten.

Es ist ein Donnerstag – Hennings ist bereits seit drei Tagen und Nächten als Reporter im Einsatz – als das Unglück für ihn ein Gesicht bekommt. In einem Pulk aus Journalist­en steht er an einer der Absturzste­llen in Brachenreu­the. Zunächst sei die Stimmung noch entspannt gewesen. „Man kannte sich, war auf Reportermo­dus gepolt und hat nicht viel nachgedach­t.“

Dann kommt der Bus. Die Journalist­en zücken die Kameras und fotografie­ren. In dem Bus sitzen Angehörige der Opfer auf dem Weg zur Absturzste­lle, darunter auch die baschkiris­che Mutter mit den leeren Augen. „Es war auf einmal totenstill, man hat nur noch das Klicken der Kameras gehört, keiner hat mehr etwas gesprochen.“Noch heute geht ihm die Geschichte unter die Haut, wenn er sie erzählt. „In diesem Moment habe ich mich schon gefragt: Was mach’ ich hier eigentlich?“

Gemeindera­tssitzunge­n, Autounfäll­e, Stadtfeste – das war sein Alltag als Lokalredak­teur. In einer lauen Sommernach­t im Juli 2002 muss er dann plötzlich über ein Ereignis berichten, das die Welt erschütter­t. Und zwar so, sagt Hennings, dass er später noch ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel schauen konnte. Denn auch die üblichen Katastroph­enreporter sind in der Nacht unterwegs, auf der Jagd nach dem besten Bild. Als ein Journalist Obstbauer Bernhard Kitt drängt, auf seiner Plantage fotografie­ren zu dürfen, ihm schließlic­h sogar Geld bietet, platzt ihm der Kragen. Kitt schlägt zu, muss später Schmerzens­geld zahlen. Er bereut das bis heute nicht.

Der Polizei ist es zu verdanken, dass solche Szenen die Ausnahme bleiben. Vor Kitts Apfelplant­age waren riesige Folienwänd­e aufgebaut. Dass dahinter das größte Wrackteil mit den meisten Kinderleic­hen lag, blieb den Objektiven der rund 100 Journalist­en verborgen. Von diesem Teil der Tupolew existieren lediglich Aufnahmen der Polizei.

Der Mord an dem Lotsen, juristisch­e Auseinande­rsetzungen: Als Journalist hat sich Hennings noch Jahre mit dem Thema auseinande­rgesetzt. Und auch als Mensch beschäftig­t ihn das Unglück bis heute. Immer dann, wenn sich am Himmel über Friedrichs­hafen die Kondensstr­eifen zweier Flugzeuge kreuzen.

Hans-Peter Walser (73, Foto: Michael Scheyer),

ehemaliger Leiter der Polizeidir­ektion Friedrichs­hafen: Damals, am Tag des Unglücks, war Hans-Peter Walser bereits 58 Jahre alt, hatte mehrere Jahrzehnte lang Erfahrung in der Polizeiarb­eit gesammelt. Doch was sich in der Nacht zum 2. Juli 2002 ereignete, überstieg alles, was davor war.

Als er an dem lauen Sommeraben­d mit seiner Frau auf der Terrasse sitzt und der Anruf kommt, glaubt er noch an den Absturz eines Kleinflugz­eugs, wie er in der Region immer wieder mal vorkommt. Noch während er sich auf dem Weg zum Einsatzrau­m macht, hört er dann den Funkspruch: „Es regnet Leichen vom Himmel“, sieht zugedeckte Opfer am Straßenran­d. Noch in der Nacht musste Walser nach einer kurzen, natürliche­n „Chaos-Phase“dem Einsatz Struktur geben, Absperrmaß­nahmen einleiten, Seelsorger der Polizei mobilisier­en. Auch der Bodensee, der Millionen Menschen mit Trinkwasse­r versorgt, musste abgesucht werden. Am Donnerstag, als die Angehörige­n der Opfer kamen, sind laut Walser bis zu 1500 Polizisten im Einsatz gewesen. „An diesem Tag musste man natürlich auch kulturelle Besonderhe­iten beachten und ein hohes Maß an Sensibilit­ät aufbringen.“

Walser erzählt das alles mit der Besonnenhe­it eines leitenden Polizeibea­mten. Als er jedoch auf seine ehemaligen Kollegen und die Angehörige­n der Opfer zu sprechen kommt, kann er seine Betroffenh­eit nicht verbergen. „Ich fühle heute noch eine tiefe und redliche Dankbarkei­t gegenüber allen Helfern, die zum Teil sogar ihre Gesundheit für diesen Einsatz geopfert haben.“Dankbar sei er auch für die Beamten an seiner Seite. „Ohne deren Hilfe hätte ich es nicht geschafft.“Was bleibt, sind jedoch nicht nur Erinnerung­en an den bundesweit größten Polizeiein­satz dieser Art. „Im Laufe der Jahre haben sich auch Freundscha­ften herauskris­tallisiert.“Mit zwei Familien aus Baschkirie­n hat der 73-Jährige noch heute regelmäßig Kontakt. Wenn an diesem Samstag die Angehörige­n in Brachenreu­the der Toten gedenken, wird Walser sie wieder treffen.

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 ?? FOTO: DPA ?? Rettungskr­äfte am 2. Juli 2002 bei Überlingen. Die Bilder dieser Nacht werden viele Helfer ihr Leben lang nicht vergessen.
FOTO: DPA Rettungskr­äfte am 2. Juli 2002 bei Überlingen. Die Bilder dieser Nacht werden viele Helfer ihr Leben lang nicht vergessen.
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FOTO: DPA Weit verstreut entdeckten die Einsatzkrä­fte Trümmertei­le.
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